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Sichere Prozesse vs. Kreativität

Mehr als ein Blech mit einer Schweißnaht
Sichere Prozesse vs. Kreativität

Sichere Prozesse vs. Kreativität
Formung eines Stahlrohres auf einer 12m-Biegewalze aus einer Grobblechtafel
Die Gründe für Reibungsverluste im betrieblichen Ablauf sind manchmal gar nicht so einfach zu lokalisieren. Besonders dann nicht, wenn bei einem eingespielten Team jeder Mitarbeiter eigentlich genau weiß, was er zu tun hat.

Udo Mathee Fach- und Wissenschaftsjournalist Coesfeld

Wie bei der Firma Bergrohr in Siegen. Das schon 1896 gegründete Familienunternehmen produziert mit seinen ca. 140 Mitarbeitern Spezialrohre bis zu einem Durchmesser von 2,50 m und einer Wandstärke von 60 mm. Jedes dieser bis zu 12 m langen Hochleistungsbauteile wird für den Kunden speziell gefertigt. Denn ein Rohr ist nicht einfach ein Rohr. Dies gilt besonders für den Einsatz in technologischen Grenzbereichen wie beim Off-shore- oder Pipelinebau – ohne spezielle Zertifizierung von der Schmelze bis zum letzten Maßprotokoll ist es nicht verkäuflich. Deshalb ist dieser Prüfaufwand auch kein zusätzlich angehängter Prozess, sondern ein integraler Bestandteil der gesamten Auftragsabwicklung.
In der Regel werden die Rohre im Auftrag des Kunden durch eine externe Abnehmergesellschaft überprüft. Diese third party begleitet entweder den gesamten Produktionsprozess oder man vereinbart, wie heute durch die gültigen Qualitätssicherheitsnormen meist üblich, spezielle Haltepunkte für sogenannte running inspections. Die Fertigungspläne werden dazu mit dem Kunden vorher abgestimmt.
Zu diesen Prüf- und Zertifizierungsschritten gehören unter anderem Zeugnisse von Eingangskontrollen, Materialanalysen, Zertifikate vom Blechlieferanten und von den Verbrauchsmaterialien wie dem Schweißpulver. Anschließend folgen die zerstörungsfreien Prüfungen (Ultraschall, Wasserdruck, Röntgen) sowie die zerstörenden Prüfungen (Zugversuch, Kerbschlag, Biegeversuch, Schliffbilder, Langzeit-Tests). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Aufwand für diese Proben mehr Zeit in Anspruch nehmen kann als der eigentliche Produktionsprozess selbst.
„Da heutige Öl- und Gasvorkommen durch ihre hohen Anteile an H2S und CO2 sehr korrosiv auf den normalen Kohlenstoffstahl wirken“, berichtet Geschäftsführer Bernd Berg, „haben wir ein zweilagiges Rohr entwickelt.“ Bei dem wird eine 3mm dicke Schicht eines entsprechenden Edelstahls mit dem Grundblech in einem integrierten Formungsprozess gewalzt und in einem eigenen Schweißverfahren miteinander verbunden. Dieses Berglay genannte Rohr bietet die Möglichkeit, beliebige Werkstoffe miteinander zu kombinieren. Für dieses neue Produkt mussten deshalb die Zertifizierungsverfahren gemäß der Normen und Kundenspezifikationen etwa von Shell oder Aramco zum Teil ergänzt und neugestaltet werden. Auch der Verkaufsprozess hatte sich geändert. Während die konventionellen Rohre meist für die internationalen Engineering-Firmen durch Handelshäuser eingekauft wurden, verhandelt man bei Anfragen zu Berglay direkt mit den Auftraggebern, wodurch sich das Unternehmen vom Lieferanten zum Lösungsanbieter gewandelt hat.
Durch diese Neu – und Umgestaltung der Produktionsabläufe erschien es dem Unternehmen sinnvoll, den Gesamtprozess und hier speziell die Auftragsabwicklung auf Schwachstellen zu untersuchen und gegebenenfalls zu überarbeiten. Ein weiterer Auslöser war die längst notwendige Anpassung des vorhandenen QM-Handbuchs. War es nicht sinnvoller, statt den Status quo nur einfach neu zu beschreiben, zuerst einmal die Prozesse und die Organisation auf ihre Effektivität hin zu durchleuchten?
„Mit unseren über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen funktionierten wir zwar ganz gut – aber doch nicht so, wie wir es eigentlich wollten“ berichtet Bernd Berg. So gab es z.B. Reibungsverluste und Terminprobleme bei der Auslieferung. Außerdem hatte sich die Nachfrage von Standardlösungen mit großen Losgrößen zu einem hochspezialisierten Nischenmarkt verschoben, wodurch der Aufwand für die Angebotserstellung natürlich gestiegen war. „Die Welt um uns herum hatte sich geändert. Außerdem mussten wir Strukturen schaffen, die z.B. einen Personalwechsel und vor allem ein organisatorisches Wachstum wie die neue F+E Stelle verkraften konnten.“ Aber nicht nur für neue Mitarbeiter ist es wichtig zu wissen, wo die jeweilige Person eingebunden ist.
Hilfe zur Selbsthilfe
Dazu wurde ein Projekt unter der Leitung des QM-Managers Joachim Lengert initiiert. Dieses Vorhaben zur Analyse der Prozesse und der Organisation und der klaren Definition der Aufgabenbereiche war jedoch nicht neben dem Tagesgeschäft zu bewerkstelligen. Deshalb engagierte die Geschäftsführung das Beratungsunternehmen Life Cycle Engineers aus Mainz, um mit deren Erfahrungen und Methoden Ansätze zur Optimierung des Gesamtprozesses als eine Hilfe zur Selbsthilfe zu erarbeiten.
„Bei einer solchen Aufgabe ist es aus unserer Sicht wichtig, diesen lebendigen Organismus „Unternehmen“ erst einmal zu verstehen. Was ist das Besondere des Produktes? Was sind seine Stärken? Und warum sind die Prozesse bisher eigentlich so wie sie sind?“, fragt sich Berater Ulrich Reetz. Zuhören können sei ihm deshalb sehr wichtig und die Fähigkeit, als Mittelständler zu denken. „Es geht schließlich nicht darum, hier Prozesse aus einem Projekt etwa eines Automobilherstellers zu übertragen, indem deren Lösungen auf ein kleineres Unternehmen zurechtgestutzt werden“, ergänzt Dr. Thomas Friedmann, einer der Geschäftsführer von Life Cycle Engineers. Darum müsse ein Berater hier viele Funktionen übernehmen können und über ein sehr umfangreiches Beratungswissen verfügen.
Im Frühjahr 2007 begann Ulrich Reetz darum unter anderem mit der scheinbar simplen Fragestellung, wie sich denn eigentlich das Produkt der Firma Bergrohr definiere. Schon dazu existierten in den einzelnen Abteilungen sehr unterschiedliche Sichtweisen – es war zwar immer das Rohr, aber stets ergänzt durch eine spezielle Dienstleistung. Selbst wenn das Rohr und die notwendigen Abnahmezeugnisse als Grundprodukt betrachtet werden, wird dieses noch um die Logistik in den entsprechenden Zielhäfen erweitert. Das ist bei einem Exportanteil von 80% keine unbedeutende Aufgabe. Oder sie umfasst das Engineering für eine spezielle Kundenanforderung. Andere Abteilungen kümmern sich wiederum um die zusätzliche Beschichtungen und weitere Rohrteile oder um Akkreditive, d.h. um finanzielle Absicherungen bei der Abwicklung für das nicht europäische Ausland.
Die einzelnen Aufgaben sind dabei vielfach vernetzt und hochgradig von einander abhängig, was eine Vielzahl an Abstimmungen notwendig macht. Diese beginnen schon beim Walzwerk, damit es alle Spezifikationen komplett erhält. Darum muss stets sichergestellt sein, dass die Informationen der jeweiligen Einzelprozesse möglichst früh und wirklich vollständig zusammenlaufen, damit sie schon in der Angebotsphase berücksichtigt werden können. Denn hier zählt nicht nur der Preis und der Liefertermin, sondern auch, ob eine Anfrage überhaupt technologisch realisierbar ist.
Schwachstellen in Fähigkeiten verwandeln
Ein weiterer wichtiger Schritt bei dieser Analyse war deshalb die Frage nach den Stärken, den Schwächen und Zielen – aus der Sicht der Geschäftsführung wie der jeweiligen Mitarbeiter. Als Ergebnis dieser Interviews wurden Schwachstellen im Ablauf wie etwa beim Wareneingang oder bei der Konfiguration genannt, für die dann Lösungsansätze gefunden werden mussten. Die höchste Priorität hatte aber zu diesem Zeitpunkt die Auftragsabwicklung.
Wie schon vermutet, waren hier die meisten dieser Defizite nicht in individuellen Tätigkeiten begründet. „Im Gegenteil – fast jeder Mitarbeiter hat sie aus seiner Sicht und seiner Erfahrung auch gut ausgeführt“, berichtet Ulrich Reetz. „Der Grund lag eher in einer unvollständigen Abstimmung. Erst durch die exakte Beschreibung eines durchgängigen Zielprozesses konnte wir etliche dieser Unstimmigkeiten und Probleme im Ablauf erkennen und beseitigen.“ Dabei wurde auch die Zahl dieser Schnittstellen reduziert und die Art der jeweiligen Übergaben vereinfacht. Außerdem mussten die Mitarbeiter darin geschult werden, jede Tätigkeit auch aus der Sicht des Gesamtprozesses zu verstehen.
Ein weiterer Schritt war die Erstellung einer Checkliste für die Angebotserstellung. Mit ihr kann jede Anfrage schon frühzeitig hinsichtlich der Risiken (technisch, kommerziell, vertraglich) wie der Potentiale (Erfolgswahrscheinlichkeit, USP, Profit) bewertet werden. Sie hilft den Mitarbeitern notfalls auch, einen definierten Eskalationsprozess zur Entscheidung von problematischen Anfragen zu beschreiten.
Eine andere identifizierte Schwachstelle lag in der terminlichen Planung. Dabei werden die Lieferzeiten vor allem durch den Liefertermin der Bleche bestimmt. Oft müssen hierfür 12–16 Wochen berücksichtigt werden, während die Produktion im Unternehmen selbst nur maximal zwei Wochen beansprucht. Um auf Verzögerungen des Walzwerkes flexibler reagieren und trotzdem die zugesagten Termine einhalten zu können, mussten die einzelnen Schritte von den Lieferanten und Dienstleistern wie auch zum Kunden durch exakte Informationen über den Status des Auftrages transparent gemacht werden. Mit der Gestaltung des Gesamtprozesses konnten dann sogar zwei konkurrierende Ziele erreicht werden, sowohl die Minimierung der Durchlaufzeiten ohne Puffer wie eine 100% Einhaltung der zugesagten Liefertermine.
Als Folge musste auch das Konfigurationsmanagement verbessert werden. Hier werden schon in der Angebotsphase auf der Basis der Eingabeparameter (Geometrie und Spezifikationen/Normen) alle erforderlichen Dokumente wie die Stückliste, die Arbeits- und Probenpläne oder die Schweißanweisungen strukturiert zusammengestellt. Auf dieser Basis können dann auch die Kosten exakter ermittelt und die Angebote erstellt werden.
Die von Bergrohr verwendete Lösung auf Basis des eingesetzten ERP-Systemes muss dazu deutlich verändert und erweitert werden. Dies Thema wurde in einem eigenständigen Projekt bearbeitet.
Die eigene Balance finden
Alle analysierten Defizite bzw. Handlungsbedarfe hat Ulrich Reetz in einem Umsetzungsplan zusammengefasst. Dieser enthielt neben der Optimierung der Auftragsabwicklung auch die Erstellung eines IT-Konzeptes mit dem Ziel der Erweiterung der bestehenden ERP Anwendung und die Anpassung der Organisation. Außerdem wurde die Fertigungsorganisation neu aufgebaut. Dazu wurden sehr viele „kleine Umsetzungspakete“ geschnürt. Diese gaben dem Unternehmen die Möglichkeit, möglichst viel aus eigener Kraft abzuarbeiten. Die Koordination und die Begleitung der Umsetzung dieser einzelnen Schritte übernahm dann wieder der Berater.
Grundsätzlich stand Bergrohr dabei immer wieder vor der Herausforderung, eine Balance zu finden – zwischen den gelebten Prozessen, wie sie im Laufe einer über hundertjährigen Firmengeschichte gewachsen sind, und den neu definierten Abläufen. Hier die gelebte spontane Kommunikation mit ihren persönlichen und kreativen Seiten und dort eine klar beschriebene Standardisierung. „Die Leute dürfen sich nicht durch Vorschriften gegängelt fühlen, aber gleichzeitig muss der Gesamtprozess zu jedem Zeitpunkt sicher ablaufen können“, verdeutlicht Bernd Berg das Problem. „Im Krisenfall sind wir zwar auch so in der Lage, schnelle und effektive Lösungen zu finden, aber man muss sich fragen, ob dieses Instrument für den permanenten Gebrauch verwendet werden sollte.“ Und die Meinung der Mitarbeiter lautete ähnlich: „Ein wenig mehr Klarheit und Struktur könnte schon nicht schaden.“
„Der gemeinsam im Team skizzierte Gesamtprozess umfasste mehr als 3 DIN-A0-Blätter. Diese Darstellung über „Swim Lanes“ half zu Darstellung der vielfältigen Prozessschnittstellen zwischen den Abteilungen und erleichterte die gemeinsame Abstimmung der Zielprozesse. 4qm Papier sind natürlich im normalen Arbeitsprozess nicht handhabbar“, schmunzelt Ulrich Reetz. Darum wurden die Abläufe in einem webbasierten Qualitätshandbuch gemäß ISO 9001 mit Hilfe der im Projekt ausgewählten Software „Mbase“ dokumentiert und den Mitarbeitern über das Intranet zur Verfügung gestellt. Neben den Prozessbeschreibungen wurden auch die definierten Rollenbeschreibungen und Organisationsstrukturen in dem System dokumentiert. Mbase ermöglicht auch die Steuerung des Workflow etwa bei einer Freigabe oder bei einem Eskalationsprozess gemäß den Anforderungen der ISO 9001. Die Aktualisierung der jeweiligen Abschnitte im Handbuch übernehmen die einzelnen Fachabteilugen. „Der Idealzustand wäre hier aus meiner Sicht, wenn wir bei jeder organisatorischen Notwendigkeit sofort dort nachschlagen könnten“, beschreibt QM Manager Joachim Lengert seine Zielvorstellung, „..und je nützlicher so ein Werkzeug für die tägliche Praxis wird, desto schneller erreicht man eine positive Eigendynamik.“ Ein Anschieben durch eine Anweisung von oben sei dann nicht mehr nötig.
Das Projekt endete im Dezember 2007. „Eine externe Beratung in dieser Form hatten wir bisher noch nicht gehabt. Herr Reetz hat dabei durch seine intensiven Gespräche eine Gesamtübersicht erhalten, die wir hier selbst wohl kaum bekommen können“, zieht Bernd Berg sein Fazit. Dadurch sei das Unternehmen einerseits in seinen schon vorhandenen Zielen bestärkt worden und habe andererseits viele Anregungen und Vorschläge erhalten. „Die Früchte dieser Beratung haben wir aber bis jetzt, selbst ein Jahr später, längst noch nicht vollständig geerntet.“
Life Cycle Engineers, Mainz
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