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Eindeutig zu tolerant

Qualitätssicherung hat bei der generativen Fertigung noch Nachholbedarf
Eindeutig zu tolerant

Additive Fertigungsverfahren stellen die Qualitätssicherung vor neue Herausforderungen, vor allem wenn das Bauteil mehr sein soll als ein einzelner Prototyp: Es mangelt an Standards und Normen – etwa für Toleranzen hinsichtlich geometrischer Abmessungen und Oberflächengüte.

„Additive Serienfertigung heißt für uns nicht, dass wir 1000 Mal einen Prototypen herstellen. Die 1000 Teile werden bei uns vielmehr in bestmöglicher, gleichbleibender, geprüfter Qualität produziert“, stellt Ralf Schindel klar, Geschäftsführer des Additive-Manufacturing-Spezialisten Prodartis aus Appenzell in der Schweiz. Das Unternehmen fertigt vor allem klein- bis mittelgroße Serien im Selective Laser Sintering (SLS) Verfahren.

„SLS ist ein Prozess mit einer Unmenge an qualitätsbestimmenden Parametern“, stellt er fest. Denn während der formgebenden Bearbeitung werden auch die Materialeigenschaften durch das Verschmelzen des Pulvers bestimmt. Das erschwert es dem Unternehmen, die Qualität bei der Serienfertigung sicherzustellen. Deshalb gehört eine Bemusterung von Serienfertigungsaufträgen ergänzt durch ein Mitsintern von Prüfkörpern zum Standard des Unternehmens.
Der VDI stellt in seinem aktuellen Statusreport „Additive Fertigungsverfahren“ fest, dass es nicht ungewöhnlich ist, dass alle Prozessschritte eine Interaktion des Bedieners erforderlich machen. Zwar arbeitet die Industrie daran, die jeweiligen Schritte zu vereinfachen oder ganz zu automatisieren. Doch ist ein Automatisierungsgrad vergleichbar mit spanenden Bearbeitungszentren oder Spritzgießmaschinen noch in weiter Ferne. Manuelle Tätigkeiten sind heute noch während des gesamten Prozesses der additiven Fertigung Standard; etwa müssen beim Stereolithographie (SLA) Verfahren, für das Flüssigpolymere genutzt werden, die Unterstützungsstrukturen manuell entfernt werden. Dieser Schritt wiederum bestimmt die Genauigkeit der Teile wesentlich.
„Um heute das Potenzial additiver Fertigungsverfahren voll auszuschöpfen, ist hoch qualifiziertes Fachpersonal in allen Prozessschritten erforderlich“, heißt es im VDI-Report. „Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass in engen Toleranzen reproduzierbare Produkte schwierig herzustellen sind. Dabei beziehen sich die Toleranzen nicht nur auf die geometrischen Abmessungen, sondern auch auf die mechanischen Kennwerte und die Oberflächengüte.“
Nacharbeiten sind deshalb in der Regel notwendig, um etwa geforderte Maßtoleranzen und Oberflächengüten zu erzielen. Diesbezüglich stoßen die unterschiedlichen Verfahren nämlich an ihre Grenzen, wie Prodartis-Geschäftsführer Schindel für das SLS-Verfahren bestätigt: Nennmaß-abhängige Toleranzen von mehreren Zehntel Millimetern seien hinzunehmen, der Grund dafür sind unter anderem Verzug aufgrund von Abkühlrate, Schwund und inhomogene Wärmeverteilung im Bauraum. „Außerdem haben im SLS-Verfahren hergestellte Bauteile unbehandelt eine eher raue Oberfläche, weshalb wir unsere SLS-Technologie meist mit konventionellen Fertigungs- und Nachbearbeitungsverfahren kombinieren“, so Schindel.
Dies bestätigt eine Studie des Direct Manufacturing Research Center (DMRC) an der Universität Paderborn, das auf dem Gebiet der additiven Fertigung forscht: Mit Selective Laser Melting (SLM) Maschinen seien Oberflächenrauheiten (RA-Werte) von 5 µm realisierbar.
Dienstleister Alphaform, Feldkirchen, hat die Oberflächenqualitäten von lasergesinterten Wirbelsäulenimplantaten aus der Titanlegierung TI6AI4V vor und nach der Nachbearbeitung miteinander verglichen: Direkt aus der Maschine genommen, wies das Implantat einen Ra-Wert von 11,174 µm und einen Rz-Wert von 59,275 µm auf. Mit einem maschinellen Finish konnte der Ra-Wert auf 0,057 µm und der Rz-Wert auf 0,373 µm gesenkt werden.
Solche Oberflächengüten sind allerdings nur möglich, wenn die raue Textur der Oberfläche während des Bearbeitungsprozesses gemessen wird. Konventionelle taktile 2D-Techniken greifen nach Darstellung von Alicona hier zu kurz, zumal sie nicht in der Lage seien, die vorhandenen Mikrostrukturen in der geforderten Genauigkeit zu analysieren. Der österreichische Hersteller empfiehlt für die additive Fertigung deshalb seine 3D-Messgerät Infinitefocus, das die optische Mikrokoordinatenmesstechnik zur Formenmessung und Rauheitsmessung gleichzeitig ermöglicht.
Ein ähnliches System gibt es von Confovis, Jena: Mit Confosurf CLV150 lassen sich neben Form- und Konturmerkmalen auch Fehler, wie beispielsweise unvollständiges Verschmelzen oder Materialeinschlüsse, sowie Rauheiten dreidimensional messen und auswerten. „Werden beim Herstellungsprozess der Teile zum Beispiel einzelne Kugeln des Pulvers auf der Oberfläche angeschmolzen, können diese selten mit einem einzelnen Tastschnitt erfasst werden und führen so zu einer indifferenten Aussage über die Oberflächengüte“, erklärt Sebastian Schenk, Vertriebsingenieur bei Confovis. „Deshalb ist es unerlässlich, die Oberfläche der additiv gefertigten Bauteile dreidimensional zu erfassen und auszuwerten, um angeschmolzene Pulverreste zu erkennen und somit die Oberflächenqualität der hergestellten Bauteile quantitativ und qualitativ zu beschreiben.“
Die Charakterisierung des Ausgangsmaterials – in dem Fall des Pulvers, das mit dem Laser aufgeschmolzen wird – erfolgt laut Schenk meist bislang nur zweidimensional und auf Basis von Bildverarbeitung. Mit dem Confovis-Messsystem werde auch das Pulver dreidimensional vermessen. Schenk: „Mit den gewonnenen 3D-Daten können dann zusätzliche Parameter wie Volumen, Kugelradius, Formfaktor oder Aspektverhältnis der Pulverteilchen bestimmt werden.“
Messsysteme, die die gesamte Bandbreite der additiv gefertigten Bauteile messen sollen, müssen nach Darstellung von Schenk unterschiedlichen Reflexionseigenschaften gewachsen sein. Durch die Integration zweier Messverfahren – Fokusvariation und strukturierte Beleuchtung – erfasst das Messsystem von Confovis sowohl spiegelnde als auch stark absorbierende Oberflächen. „Das ist erforderlich, um die Prozesskette vom Pulver bis zum Fertigprodukt zu kontrollieren“, so Schenk. Um steile Flanken aufzunehmen und auszuwerten, nutzen die Messsysteme zusätzlich zur hochauflösenden strukturierten Beleuchtung das Fokusvariationsverfahren. Dieses ist vor allem für die Messung von Formen und Konturen vorteilhaft. Dabei beträgt der Akzeptanzwinkel über 85°.
Optische Messtechnik ist auch aus einem anderen Grund für die Qualitätssicherung der additiven Fertigung gefragt, denn sie ermöglicht die Produktion von Bauteilen mit völlig neuen Geometrien. „Konstruktiv gibt es so gut wie keine Grenzen“, sagt Hans Keller, der beim Tuttlinger Medizintechnikhersteller Aesculap sowohl den Prototypen- und Werkzeugbau als auch die Entwicklung neuer Fertigungstechnologien leitet. Aesculap setzt schon seit mehr als 20 Jahren auf die additive Fertigung – und zwar im Prototypen- und Hilfsmittelbau. Aber schon bald will das Unternehmen mit Kniegelenkimplantaten aus einer Cobalt-Chrom-Legierung in Kleinserie gehen.
Welche konstruktiven Chancen sich Aesculap durch die generative Fertigung bieten, erklärt Keller anhand eines Wirbelersatzes, der eigentlich für die Dreh-Fräs-Bearbeitung konstruiert worden war: „Aus biomedizinischer Sicht war die Konstruktion nicht optimal. Erst mit Hilfe der additiven Fertigung hatten unsere Entwickler die Möglichkeit, durch Hinterschnitte und aufwändige Konturen, die sich mit der Dreh-Fräs-Bearbeitung kaum umsetzen lassen, auf die anatomischen Belange stärker Rücksicht zu nehmen.“ Solche Hinterschnitte lassen sich auf dem Koordinatenmessgerät mit taktilen Messtastern nur schwer vermessen. Multisensor-Koordinatenmessgeräte, auch kombiniert mit Computertomografie für den Blick ins Innere eines Bauteils, sind hier gefragt.
Komplettes Neuland ist zudem die Inline-Qualitätskontrolle bei der additiven Fertigung – ein Aspekt, den nach Umfragen des DMRC vor allem Flugzeughersteller sehr bemängeln.
Maßtoleranzen für additive Fertigungsverfahren
Abgesehen von der passenden Messtechnik im Messraum sowie in der Fertigung gibt es laut DMRC noch Unsicherheit bezüglich der Maßtoleranzen, die bei der additiven Fertigung Anwendungen finden sollen. Die Krux: Zwar erfolgt die Gestaltung additiv zu fertigender Bauteile rechnergestützt. Dabei wird das Bauteil mit seiner Nenngestalt erzeugt, die der theoretisch idealen Bauteilgestalt entspricht. Die materielle Fertigung technischer Bauteile führt aber stets zu geometrischen Abweichungen von der Nenngestalt. So können beispielsweise Maß-, Form- und Lageabweichungen resultieren, die bei der Kombination von Bauteilen die Funktionserfüllung verhindern können“, sagt Prof. Detmar Zimmer, der den Lehrstuhl für Konstruktions- und Antriebstechnik an der Universität Paderborn innehat. „Allerdings ist nicht bekannt, wie groß diese Toleranzen für die additive Fertigung sein können und müssen.“ Dafür gibt es weder entsprechende Literatur noch geltende Normen.
„In Anwenderkreisen werden zwar vermehrt Tole-ranzangaben aufgeführt, diese stammen jedoch meist aus individuellem Erfahrungswissen und sind nicht empirisch begründet“, so Zimmer. „Weiterhin sind die oftmals gebräuchlichen Toleranzangaben nicht oder nur sehr begrenzt übertragbar, da sie von einer Vielzahl von Einflussfaktoren abhängig sind.“ Ein Forschungsprojekt am DMRC ermittelt deshalb systematisch Maßtoleranzen für additive Fertigungsverfahren – für werkstattübliche Anwendung, also bei häufig verwendeten und unveränderten Standardparametersätzen, Materialien und Maschineneinstellungen. Gleichzeitig wird untersucht, wie Maßabweichungen und dadurch die abgeleiteten Maßtoleranzen minimiert werden können. Hierzu werden Prozessparameter und Fertigungseinflüsse identifiziert und optimiert. ■
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