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Ganz vermessen leben

Quantified Self und der Sinn des Sammelns von ganz persönlichen Daten
Ganz vermessen leben

Ob Dauer des Schlaf, gejoggte Strecke, erklommene Treppenstufen, Herzfrequenz oder zurückgelegte Reisekilometer – es gibt Menschen, die mit Hilfe elektronischer Geräte sich selbst und ihr Leben vermessen. Quantified Self nennt sich die Bewegung. Alles Verrückte oder was?

Martin Bryant wacht morgens auf, verschwindet im Bad, zieht sich die Jeans an und geht in die Küche. Und immer wird er vermessen mit dem Fitbit One. Der winzige Tracker registriert seine Schlafdauer- und Qualität, jeden Schritt, den er zurücklegt und jede Treppenstufe, die er nimmt. In der Küche fällt ihm auf, dass keine Milch mehr im Kühlschrank ist. Deshalb geht er zum nächsten Supermarkt, der 500 m entfernt liegt. Jetzt verfolgt ihn nicht nur Fitbit, sondern auch Googles Ortungsdienst Latitude, der auf seinem Smartphone installiert ist. Doch das ist noch nicht alles: Moves, eine Hybrid-App, die sowohl Aktivitäten als auch Standorte loggt, erkennt, dass er 500 m bis zum Supermarkt zurückgelegt hat und fügt diese Daten der täglichen Zusammenfassung hinzu. Am Abend steigt Bryant auf seine Withings Waage, die das gemessene Gewicht sofort an das Fitbit-Benutzerkonto sendet.

Bryant ist leitender Redakteur beim Online-Magazin The Next Web (TNW) und hat sich daher schon von Berufs wegen dafür entschieden, Teile seines persönlichen Lebens mittels elektronischer Geräte, Apps und des Internets zu vermessen. Viele andere Menschen rund um den Globus tun es ihm mittlerweile gleich – meist, um mehr über sich selbst zu erfahren. Quantified Self, also das Vermessene Selbst, heißt die Bewegung, die in den USA entstand.
Einer der Promis der Szene ist der Designer Nicholas Felton, einer der Väter des Facebook-Konzepts Timeline, das die Profile und somit das Leben der Nutzer chronologisch darstellt. Basis für Timeline sind Feltons Annual Reports, bestehend aus aufwendigen und detaillierten Infografiken über sein Leben, an dem er seit 2006 Gott und die Welt teilhaben lässt: Er führt seitdem akribisch Buch über seine Reisen, seine Ess- und Trinkgewohnheiten, seine Fitnessaktivitäten oder auch über die statistische Verteilung der Farben der von ihm gekauften Kleidungsstücke.
Mehr als nur Nerds?
Doch die Bewegung lässt sich nicht auf solche Promis reduzieren. Im Mai kamen in Amsterdam rund 350 Teilnehmer zur zweiten europäischen Quantified Self Konferenz in Amsterdam zusammen. Zugegeben, darunter waren viele Entwickler entsprechender Gadgets und Software. Doch in einigen deutschen Städten treffen sich mittlerweile „echte“ Selbstvermesser regelmäßig zum Erfahrungsaustausch, Meet-ups genannt. Es versteht sich von selbst, dass sie auf ihren Internet-Seiten transparent machen, wie viele aktuell dazu gehören. In Stuttgart sind es beispielsweise 23, in Berlin immerhin 330. Sie diskutieren über Software und Sensoren, aber auch über Chancen und Risiken der Quantifizierung.
Eine Art Selbsthilfegruppe?
Natürlich gibt es Nerds darunter, die die technischen Möglichkeiten einfach ausprobieren wollen. Doch auch chronisch Kranke wie Diabetiker gehören dazu – und Patienten, denen Ärzte nicht weiterhelfen konnten. Etwa mit Schlafproblemen oder Migräne. Sie wollen durch das Sammeln von Daten den Ursachen auf den Grund gehen und damit ihr Leben verbessern. Christian Stammel, CEO der Wearable Technologies AG: „Viele Ärzte sind zwar skeptisch. Doch ich sage: Das ist für die Leute eine Art Selbsthilfegruppe. Und wenn es hilft, soll es doch allen recht sein.“
Einer der Macher der deutschen Selbstvermesser-Szene ist Trendscout in Stammels Unternehmen: Florian Schumacher. Für ihn ist Quantified Self weit mehr als das Erfassen von Bewegungsaktivität, Gewicht und Ernährung. „Auch Informationen zur Stimmung, chronischen Erkrankung oder der finanziellen Situation werden erfasst. Ziel dieser Datensammlung ist in den meisten die Fällen die Generierung von Wissen, welches als Alternative zur Vermutung oder Unwissenheit helfen soll, bessere Entscheidungen zu fällen“, schreibt er in seinem Blog. Die Menschen der Quantified-Self-Bewegung interessieren „sich für das Potenzial persönlicher Daten zu Gesundheit, Verhalten und Umwelt, um sich selbst besser kennenzulernen.“
Frei nach dem Motto: Das Wissen bestimmt das Bewusstsein, so dass der Mensch häufig auch sein Verhalten verändert. Schumacher nennt ein Beispiel: „Macht man sich die eigene Bewegungsaktivität im Alltag mit Hilfe von einem Schrittzähler bewusst, lebt man aktiver. Nach dem selben Prinzip wiegen Menschen, die sich regelmäßig auf die Waage stellen, weniger als Menschen die sich nicht mit ihrem Gewicht auseinandersetzen.“
Der Gründer von Quantified Self Deutschland experimentiert selbst mit verschiedensten Varianten des Self-Tracking, angefangen bei der Erfassung von Daten durch verschiedenste Sensoren bis hin zur automatisierten Auswertung des Nutzerverhalten durch Tracking der Aktivität auf seinem Computer oder durch Smart Home Anwendungen. „Dabei bin ich auf ein enormes Spektrum an Nutzungsmöglichkeiten persönlicher Daten gestoßen, von der Aufbereitung von Informationen zur besseren Verständlichkeit eines Sachverhalts bis zum unmittelbaren Feedback durch mechanische Vibrationen am Körper, die auf eine schlechte Haltung hinweisen.“
Die kulturelle Weiterentwicklung der Menschheit?
Doch Schumacher schaut weit über den Tellerrand hinaus: „Bei all diesen Ansätzen interessiert mich, wie Wissen generiert werden kann und welche Auswirkungen das daraus resultierende Bewusstsein auf menschliches Verhalten hat. Dabei sehe ich die durch neue technische Möglichkeiten ausgelöste Veränderung des Bewusstseins lediglich als Phänomen einer ständigen kulturellen Weiterentwicklung der Menschheit.“
Solche philosophischen Gedanken teilen nicht alle in der Szene. Gleichwohl stellt sich die Frage, wohin die Bewegung steuert und welche Vorteile der einzelne und die Gesellschaft künftig von den gemessenen und gespeicherten Daten haben. Sempo Karjalainen – CEO des finnischen Startups Protogeo, das die vom Kollegen Bryant genutzte App Moves entwickelt hat – ist sich sicher, dass wir erst am Anfang der Entwicklung stehen und dass viele Daten künftig automatisiert gesammelt und mit Hilfe intelligenter Algorithmen verknüpft werden können, so dass sie für den Einzelnen besser nutzbar sind.
Angesichts der riesigen Datenmengen, die Selbstvermesser über ihre Gesundheit sammeln, ist Ki Mae Heussner, Analystin beim US-Marktforschungsunternehmen Gigaom, überzeugt: „Die Quantified Self Daten wären eine Goldmine für Wissenschaftler – wenn sie denn darüber verfügen könnten.“ ■
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