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Haftung für potenzielle Produktfehler

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Haftung für potenzielle Produktfehler

Künftig können bei einem fehlerhaften Medizinprodukt alle Geräte desselben Modells als potenziell fehlerhaft eingestuft werden. Der Hersteller der betroffenen Geräte ist verpflichtet, die Kosten für die erforderliche Austauschoperation zu tragen.

In dem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ging es um drei Patienten aus Deutschland, die ihre Herzschrittmacher beziehungsweise implantierbaren cardioverten Defibrillatoren austauschen ließen. Der Hersteller hatte zuvor einen Austausch empfohlen und kostenlose Ersatzgeräte zur Verfügung gestellt. Die Krankenkassen der Patienten verlangten vom Hersteller daraufhin die Erstattung der Kosten, die im Zusammenhang mit den Eingriffen entstanden waren.

Grundlage für die Entscheidung ist die Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG, die in Deutschland mit dem Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG) umgesetzt ist. Der EuGH hat die Frage entschieden, ob ein Produkt im Sinne von Art. 6 der Richtlinie beziehungsweise § 3 ProdHaftG bereits fehlerhaft ist, wenn ein Produkt desselben Modells ein nennenswert höheres Ausfallrisiko hat – im konkret vorliegenden Fall jedoch kein Fehler des Geräts festgestellt werden konnte.
Neben dieser Frage ging es darum, ob es sich bei den Kosten der Explantation und Implantation anderer Geräte um einen durch Körperverletzung verursachten Schaden im Sinne von Art. 9 der Richtlinie bzw. § 8 ProdHaftG handelt.
Zur Bestimmung der Sicherheit, die von einem Produkt erwartet werden darf, müssen nach Ansicht des EuGH der Verwendungszweck, die objektiven Merkmale und Eigenschaften des entsprechenden Produkts sowie die Besonderheiten der Benutzergruppe, für die es bestimmt ist, berücksichtigt werden.
Der EuGH stellte fest, dass Herzschrittmacher und vergleichbare medizinische Produkte besonders hohen Sicherheitsanforderungen und -erwartungen unterliegen. Begründet wurde dies mit der Funktion der Geräte und der Verletzlichkeit der betroffenen Patienten. Der Sicherheitsmangel dieser Produkte, der die Haftung auslöse, bestehe in der anormalen Potenzialität des Personenschadens, der durch einen Fehler verursacht werden könne. Auch ohne Nachweis im Einzelfall müssten – soweit ein potenzieller Fehler in der Serie festgestellt wird – alle entsprechenden Herzschrittmacher als fehlerhaft und unsicher eingestuft werden.
Bei den Kosten im Zusammenhang mit dem Austausch der Geräte handelt es sich um einen durch Körperverletzung verursachten Schaden, für den der Hersteller haftet. Laut EuGH umfasst der Schadensersatz bei einem fehlerhaften Produkt alles, was erforder- lich ist, um die Schadensfolge zu beseitigen und das Sicherheitsniveau wiederherzustellen, das man nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie zu erwarten berechtigt ist.
Schon der Verdacht reicht
Künftig ist es für die Haftung eines Medizinprodukteherstellers ausreichend, wenn ein möglicher Produktfehler einen vorbeugenden Eingriff begründet, um eventuelle Risiken auszuräumen. Der Anwendungsbereich der Produkthaftungsrichtlinie ist damit nicht mehr auf Sachverhalte beschränkt, in denen sich der Produktfehler in einem durch diesen verursachten Schaden unmittelbar verkörpert. Dies ist eine Abkehr von der bisher geltenden Schadensersatzsystematik, wonach ein bloßer Fehlerverdacht gerade keinen Schadensersatzanspruch ausgelöst hat, da Kausalität zwischen dem konkreten Produktfehler und dem Schadenseintritt erforderlich war.
Der EuGH hat mit der geschilderten Entscheidung einen abstrakten Fehlerverdacht als Fehlerkategorie etabliert. Abgesehen von der Sonderkonstellation eines Implantaterückrufs stellt sich die Frage, wie der Kausalitätsnachweis zwischen einem abstrakten Fehlerverdacht und dem konkreten Patientenschaden aussehen kann. Es bleibt darüber hinaus abzuwarten, ob der BGH, der den Gleichlauf von Produktfehler im Sinne des Produkthaftungsrechts und deliktischer Verkehrssicherungspflichtverletzung betont, die Fehlerverdachtsrechtsprechung auf die deliktische Produzentenhaftung des § 823 BGB übertragt.
Grundsätzlich ist aufgrund des EuGH Urteils künftig mit einer schärferen Haftung zu rechnen. Das Urteil ist grundlegend und nicht auf Medizinprodukte beschränkt. Denkbar sind auch andere Fallkonstellationen, in denen ein hoher Personenschaden droht. Nicht übertragbar sind die Grundsätze dieser Entscheidung hingegen auf Situationen eines vorbeugenden Rückrufs durch einen Automobilhersteller. Bei einem vorsorglichen Austausch von Kfz-Bestandteilen werden in der Regel keine anderen Komponenten des Kfz beschädigt, im Gegensatz zu der Körperverletzung eines Patienten bei einer Operation.
Um das eigene Haftungsrisiko zu minimieren, ist insbesondere Herstellern von Medizinprodukten anzuraten, ihre Produkte während der Konstruktions- und der Fabrikationsphase noch strenger zu überwachen und engmaschige Qualitätskontrollen durchzuführen. So können Rückruf- und Austauschmaßnahmen vermieden werden und auch die daraus resultierenden Kosten. ■
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