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Pitstops für Züge auf Formel 1-Niveau

Alstom kann die Zeit für die Wartung von Virgin-Zügen auf drei Stunden senken
Pitstops für Züge auf Formel 1-Niveau

Alstom West Coast Train Care ist seit 1999 für die Wartung von Hochgeschwindigkeitszügen bei der britischen Virgin West Coast Main Line zuständig. Die meistgenutzte Bahnstrecke Europas verläuft durch die Regionen England, Schottland und Wales und verbindet London und Glasgow. Um dieser Bedeutung gerecht zu werden, muss Virgin seinen über 19 Millionen beförderten Passagieren jährlich nicht nur guten Service, sondern auch einen störungsfreien und pünktlichen Transport bieten. Die Wartungsdienstleistungen von Alstom tragen einen entscheidenden Teil dazu bei, Zuverlässigkeit, Qualität und Sicherheit durch eine einwandfreie Instandhaltung der Züge zu gewährleisten.

Mike Herr, Managing Director TBM Europe Richard Holland, Vice President TBM UK, TBM Consulting Group

Dabei steht der Hersteller von Schienenfahrzeugen vor besonderen Herausforderungen. Im Unterschied zum deutschen Bahnverkehr übernimmt Alstom nämlich nicht nur die Wartung und Instandhaltung der Waggons und Triebwagen, sondern sorgt auch dafür, dass funktionierende Züge pünktlich an den jeweiligen Start- und Zielbahnhöfen ankommen und abfahren. Virgin Rail hat hingegen einen „Anspruch auf Mobilität“ für die genutzten Züge erworben und ist daher nur für deren Auslastung zuständig. Alstom muss also in eigener Verantwortung sicherstellen, dass die kurzen Instandhaltungszeiträume effizient genutzt und vollständige Wartungsvorgänge durchgeführt und abgeschlossen werden können. Alstom betreut insgesamt 53 Virgin-Züge, von denen 47 ständig im Einsatz sind. Um diese Züge in dem engen Zeitfenster zwischen neun Uhr abends und 6 Uhr morgens zu warten, bleibt den Alstom-Mitarbeitern neben der Reinigung nicht viel Zeit für Reparaturen. Hier bestand Verbesserungsbedarf. Mit Hilfe von TBM können alle Reparaturen nun in weniger als drei Stunden durchgeführt werden. Angesichts der Zuggröße entspricht dieses Tempo beinahe Formel 1-Niveau. Damit kein Zug länger als nötig ausfällt und am nächsten Tag eingesetzt werden kann, müssen die Techniker also sehr effizient arbeiten. Denn die Leistung von Alstom wird nach Kriterien wie gefahrenen Kilometern, Pünktlichkeit oder Zuverlässigkeit bewertet und bezahlt.
Lean Management und Qualitätsmanagement
Damit diese Ansprüche erfüllt werden, entschied sich Alstom für die Zusammenarbeit mit dem LeanSigma-Spezialisten TBM Consulting. LeanSigma verbindet Lean-Management und die Qualitätsmanagement-Tools von SixSigma miteinander. Diese Management-Methoden wurzeln im Toyota Produktionssystem (TPS) und in den SixSigma-Ideen von Motorola. Ziel dieser auch als Lean Production oder Kaizen bezeichneten Managementtechnik ist eine möglichst effiziente Nutzung bestehender Ressourcen und die Vermeidung von Verschwendung im Produktionsprozess. Gleichzeitig soll eine möglichst hohe Qualität während der gesamten Herstellung gewährleistet werden, um eine teure Nachbesserung von Fehlern zu vermeiden.
Als Einstieg in LeanSigma entschied sich Alstom für die Veranstaltung von Kaizen Events im eigenen Haus. Diese speziell auf den Bedarf des Unternehmens zugeschnittenen Workshops informieren Mitarbeiter und Verantwortliche darüber, wie sie Abläufe aktiv optimieren und damit zu einer Qualitäts- und Effizienzverbesserung beitragen können. Gleichzeitig werden sie motiviert, die Prozessoptimierung zu unterstützen und Veränderungen nicht misstrauisch gegenüber zu stehen. Die gemeinsam erarbeiteten Verbesserungen integrieren die Kaizen-Experten direkt und praktisch anwendbar in die Arbeitsabläufe des Unternehmens. In der Anfangszeit der Zusammenarbeit zwischen Alstom und TBM wurden zwei Mitarbeiter des Geschäftsbereichs Alstom West Coast Traincare zu sogenannten SixSigma Black Belts ausgebildet, die damit selbst über enormes Know-How zur Qualitätsverbesserung verfügten und die LeanSigma-Prinzipien nach einer internen Umstrukturierung der Alstom West Coast Traincare auf alle Service-Bereiche des Unternehmens anwenden sollten. Kern dieses neuen Konzepts bildet ein Programm zur Verbesserung der gesamten Service-Arbeit innerhalb der West Coast Franchisekette, die für die Instandhaltung und den Betrieb der Virgin-Züge zuständig ist.
Programm zur Effizienz- und Prozessverbesserung
Die Alstom-Mitarbeiter Steven Clarksmith und Steve Hadfield verfügen über jahrelange Erfahrung im Umgang mit Lean- und SixSigma-Methoden. Nach einer intensiven Ausbildung in der LeanSigma-Lehre und mehreren Praxisschulungen haben die beiden Experten den SixSigma Black Belt Status erworben und können daher sehr gut einschätzen, welche Fortbildungen und Veranstaltungen in ihrem Unternehmen sinnvoll sind. Daher waren sie auch für die Organisation eines LeanSigma-Programms zuständig, mit dem die Service- und Wartungsprozesse bei Alstom West Coast Traincare verbessert werden sollten. Dieses Programm bauten die Experten zweistufig auf. So wurden zum einen die Führungskräfte in Lean-Methoden geschult und über Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung aufgeklärt. Zum anderen sollten Senior Production Manager in speziellen Trainings die Einsatzbereiche kennenlernen und selbst Lösungsansätze erarbeiten.
Um mehr über die Grundlagen der von Toyota entwickelten Methodik zu erfahren, besuchten die führenden Manager von Alstom im April letzten Jahres das Einführungsseminar zu Lean „Quest for the Perfect Engine“ (QPE). Bei diesem QPE lernten die Alstom-Verantwortlichen gemeinsam mit Managern anderer Unternehmen, warum und wie sie ihre Prozesse optimieren können. Praktische und leicht nachvollziehbare Beispiele aus Unternehmen gaben den Seminar-Teilnehmern außerdem einen besseren Einblick in die Anwendung der Lean-Prinzipien und deren Potenzial. Dieser Workshop überzeugte die Verantwortlichen von dem Mehrwert effizient gestalteter Produktionsprozesse und zeigte ihnen Optimierungspotenzial im eigenen Haus auf.
Langfristig angelegtes Lean-Programm
Auf Basis dieser Erkenntnisse untersuchten Alstom-Lean-Experten, Manager und Direktoren die Produktionsprozesse bei Alstom sowie deren Schwachstellen und erarbeiteten gemeinsam einen Verbesserungsplan. Dieser Plan orientierte sich sehr stark an den Hauptgeschäftszielen des Unternehmens. Unterstützung bekam Alstom dabei von einem TBM-Spezialisten, der zwei jeweils dreitägige Workshops organisierte. In den gemeinsamen Sessions mit allen Führungskräften von Alstom ging es vor allem um die praktische Umsetzung der vereinbarten Ziele und die Nutzung der Lean-Tools bei Dienstleistungen wie Instandhaltung, Zugwäsche, Innenreinigung, Ver- und Entsorgung. Aber auch die Suche nach Mängeln und die Beseitigung von Defekten sollten künftig noch zuverlässiger und schneller durchgeführt werden.
In einem ersten Meeting kristallisierten sich vier Hauptbereiche heraus, die in den folgenden drei Jahren verbessert werden sollten. Dies spiegelt einen wichtigen Kernbestandteil der Lean-Philosophie wieder. Lean-Aktivitäten sollten immer langfristig angelegt sein, so wie es Toyota seit über 50 Jahren erfolgreich vormacht. Oberflächliche Veränderungen bewirken nur kurzfristige Erfolge, die schnell wieder verpuffen. Bei Lean geht es darum, nach den Wurzeln eines Problems zu suchen und dies langfristig und durch nachhaltige Maßnahmen zu lösen. Nur dadurch können Unternehmen über mehrere Jahre hinweg erfolgreich sein. So sind bereits die ersten Aktivitäten langfristig angelegt.
Konkrete Projekte zur Umsetzung der Ziele
Um die festgelegten Ziele planmäßig zu realisieren, entwickelte das Alstom-Management-Team 20 Projekte, die direkt auf die Wartungsprozesse und deren jeweiliger Anforderungen zugeschnitten sind. Diese Projekte konnten direkt in den Service-Bereichen durchgeführt werden. In einem zweiten Seminar entwickelten die Alstom-Führungskräfte gemeinsam mit den Lean-Experten des Unternehmens einen Kaizen-Kalender, mit dem Kaizen-Workshops für Mitarbeiter geplant wurden. In diesen alle drei Monate stattfindenden Veranstaltungen erlernen die für die Service-Prozesse Verantwortlichen die Lean-Grundsätze und erfahren mehr über die konkret umsetzbaren Prozessverbesserungen in ihrem Unternehmen. Ziel dieser Kaizen-Workshops ist vor allem die Motivation der Mitarbeiter, um einen schnellen Wandel der Unternehmenskultur und eine breite Unterstützung für die Ziele zu erreichen. Moderiert werden diese Veranstaltungen von Alstom-Teamleitern, die dabei Unterstützung von TBM-Experten erhalten. Die Moderatoren bereiten eigene Präsentationen vor, die sich an den vereinbarten Zielen orientieren und mit dem Alstom-Management abgestimmt werden.
Aktive Suche nach Schwachstellen
Damit die Workshops und Verbesserungen erfolgreich durchgeführt werden können, erhält Alstom in sechsmonatigen Abständen Unterstützung von TBM-Experten. Diese treffen sich regelmäßig mit den Alstom-Managern und geben Hilfestellung bei möglichen Fragen oder Problemen. Außerdem soll ein Rückblick auf das vergangene halbe Jahr Aufschluss über die bereits erzielten Erfolge und einen möglichen Nachholbedarf geben. Damit wird der gesamte Verbesserungsprozess relevant und alle Beteiligten erhalten einen genauen Zwischenstand über ihre Produktivitätsleistung. Die konkrete Überprüfung der Performance ist ein weiterer Kernbestandteil der Lean-Philosophie. Denn im Gegensatz zu anderen Management-Methoden sind festgestellte Probleme wertvoller Input, der grundlegend zur Effizienzsteigerung beiträgt. Mitarbeiter werden aktiv dazu ermutigt, Schwachstellen in den Prozessen zu benennen. Nur so können wichtige Mängel, die bisher im Dunkeln geblieben waren, auch entdeckt und beseitigt werden. Ein Beispiel für verbesserte Wartungsprozesse ist die Reparatur der Sanitäranlagen. Um ihnen lange Wege zu ersparen, wurden alle Reparateure mit einem eigenen Toolset der wichtigsten Werkzeuge ausgestattet. So konnten sich die Mitarbeiter besser auf ihre Aufgaben konzentrieren und die Reparaturzeit sank von vier Stunden auf 20 Minuten. Ein weiteres Beispiel ist der Austausch von Drehgestellten im Rahmen einer regelmäßigen Wartung. Alstom plante dafür den Bau eines neuen Gebäudes und Investitionen in Millionenhöhe. Nachdem das Management mit Hilfe von TBM den Einsatz der vorhandenen Ausrüstung effizienter geplant und koordiniert hatte, konnte diese Investition eingespart und anderweitig verwendet werden. Die erste Kaizen-Veranstaltung fand im November 2006 bei Alstom statt und gab neben einem Rückblick auf das letzte Halbjahr auch einen Ausblick auf die nächsten sechs Monate. Seitdem gab es mehrere interne Workshops, in denen die Alstom-Mitarbeiter konkrete Informationen für die Verbesserung ihrer Service- und Wartungsprozesse bekamen. Diese Veranstaltungen fanden an allen vier Depots der West Coast Main Line statt, in denen die Virgin-Pendolino-Züge gewartet werden. Daneben nahmen Führungskräfte und Projektverantwortliche an TBM-Seminaren teil, um ihre Lean-Kenntnisse zu vertiefen und mehr Erfahrung in diesem Bereich zu sammeln. Diese Veranstaltungen finden bei TBM-Kunden statt, die Lean-Methoden bereits seit mehreren Jahren anwenden und Erfolge aufweisen können.
Erste Projekterfolge
Bereits in den ersten Monaten nach dem Start des Programms gab es erste Erfolge, die auch bei Alstoms Kunden Virgin Rail Beachtung fanden. So nahmen Vertreter des Transportunternehmens sogar an einem Kaizen-Event teil, um mehr über die Prozessverbesserungen und Leistungssteigerungen bei der West Coast Main Line zu erfahren. Zudem haben es die Alstom-Mitarbeiter geschafft, ihre Produktivität mit den erlernten Methoden um 30 bis 40 Prozent zu erhöhen und damit unter den erforderlichen drei Stunden für die Übernachtwartung zu bleiben. Jetzt müssen Züge nicht mehr für bis zu einer Woche aus dem Verkehr gezogen werden, um größere Reparaturen und Instandhaltungsarbeiten durchzuführen.
Ausblick
Das Lean-Programm ist auf einen Zeitraum bis 2012 ausgelegt. Derzeit überlegen die Alstom-Lean-Manager aber bereits, wie sie die Produktivität darüber hinaus verbessern und neue Anforderungen von Virgin Rail erfüllen können. Alstom ist damit Vorreiter bei der Nutzung der Kaizen-Lehre in der Bahnindustrie. Bisher gibt es keine vergleichbaren Projekte anderer Unternehmen in diesem Bereich. Grund genug für das Unternehmen, sich weiter intensiv mit den Lean-Prinzipien zu beschäftigen und kontinuierlich nach Verbesserungspotenzial zu suchen. Denn nur durch dieses Engagement kann Alstom die hohen Zielvorgaben von Virgin Rail erfüllen und Wettbewerbern einen Schritt voraus sein.
TBM Europe, Genf, Schweiz
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