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Das Qualitätsmanagement bleibt die große Hürde

Medizintechnik
Das Qualitätsmanagement bleibt die große Hürde

Durch die Covid-19-Pandemie stellen viele Unternehmen ihre Fertigung um – und produzieren Medizinprodukte, die derzeit besonders stark gefragt sind. Zwar hat die EU manche Konformitätsbewertungsverfahren gelockert. Doch generell ist die Branche stark reguliert und erfordert starke Maßnahmen hinsichtlich Qualitätsmanagement.

Mitte März hatte die EU einen Aufruf zu dringend benötigten Produkten zum Schutz gegen das Covid-19-Virus gestartet. Darunter fielen Produkte für die persönliche Schutzausrüstung wie Schutzbrillen und Medizinprodukte wie etwa OP-Masken. Die Resonanz von produzierenden Unternehmen auf den Appell war riesig. „Bei uns alleine sind mehrere hundert Rückmeldungen eingegangen“, sagt Diethelm Carius, Referent der Arbeitsgemeinschaft Medizintechnik im VDMA, welche den Aufruf an ihre Mitglieder weitergeleitet hatte.

Große Herausforderungen stellen für viele Unternehmen dabei Produkte dar, die als Medizinprodukte klassifiziert sind. Um ein Medizinprodukt in der EU in Verkehr bringen zu können, muss es alle anwendbaren EU-Richtlinien erfüllen und ein Konformitätsbewertungsverfahren erfolgreich durchlaufen. Dafür gelten Stand heute in Europa die Richtlinie über aktive implantierbare medizinische Geräte 90/385/EWG (kurz AIMD) und die Richtlinie über Medizinprodukte 93/42/EWG (kurz MDD). Ersetzt werden beide durch die im Mai 2017 in Kraft getretene Medizinprodukteverordnung (MDR), die eigentlich nach einer dreijährigen Umsetzungsfrist im Mai 2020 die alten Richtlinien obsolet machen sollte. Eigentlich – denn auch hier sorgte das Coronavirus für Turbulenzen: Die EU hat im April den Geltungsbeginn der MDR auf den 26. Mai 2021 verschoben. Das heißt, Hersteller von Medizintechnik haben nun ein weiteres Jahr Zeit, um die Anforderungen der MDR zu erfüllen. Das heißt, alle Produkte – also auch Bestandsprodukte – müssen nach den Regeln der MDR einer neuen Konformitätsbewertung unterzogen werden.

Je nach Risikoklasse des Medizinprodukts stehen dabei unterschiedliche Konformitätsbewertungsverfahren zur Auswahl. Die Klassifizierung berücksichtigt das potenzielle Risiko, das vom Medizinprodukt ausgeht und mit den Eigenschaften und der Herstellung der Produkte verbunden ist.

„Generell benötigen Medizinprodukte eine CE-Kennzeichnung. Je nach Risikoklasse ist bei dem dafür notwendigen Konformitätsbewertungsverfahren die Mitwirkung einer Benannten Stelle notwendig“, erklärt Meinrad Kempf, Projektleiter beim Medizintechnik-Netzwerk Medical Mountains. Benannte Stellen sind unabhängige, staatlich zugelassene Drittunternehmen, die die Konformitätsbewertung im Auftrag der Medizinproduktehersteller durchführen. Das heißt, die benannten Stellen bewerten das vollständige Qualitätsmanagementsystem.

Eine Ausnahme davon bilden Medizinprodukte der Risikoklasse I, die nicht steril sind beziehungsweise nicht über eine Messfunktion verfügen. Darunter fallen zum Beispiel OP-Masken. In dem Fall dürfen Hersteller sich die CE-Konformität selbst erklären. Das heißt, sie können das Zertifizierungsverfahren eigenständig durchführen. Dafür beauftragen sie einen Sachverständigen, der den Prototypen des Produkts anhand der Richtlinien für Medizinprodukte prüft und eine sogenannte Erklärung zur Konformitätsbewertung anfertigt. Diese Medizinprodukte müssen den zuständigen nationalen Behörden gemeldet werden.

Für viele Unternehmen stellt sich derzeit die Frage: Handelt es sich bei der Atemschutzmaske, die sie auf den Markt bringen wollen, um ein Medizinprodukt und/oder um persönliche Schutzausrüstung (PSA)? „Die Frage ist oft nicht zweifelsfrei zu beantworten“, betont Miriam Schuh, Rechtanwältin und Team Leader Healthcare bei Reuschlaw. „Nach der geltenden europäischen Richtlinie für Medizinprodukte gilt, dass Produkte, die vom Hersteller sowohl zur Verwendung als Medizinprodukt als auch als persönliche Schutzausrüstung bestimmt sind, auch den Anforderungen der europäischen PSA-Verordnung genügen müssen. Sowohl Medizinprodukte als auch PSA müssen danach einem Konformitätsbewertungsverfahren unterzogen werden, um ihre Sicherheit und Leistungsfähigkeit zu gewährleisten, und dürfen nur mit CE-Kennzeichnung auf dem europäischen Markt vertrieben werden.“

Auch Risikoklasse I erfordert zum Teil
die Mitwirkung einer Benannten Stelle

Schon für Produkte der Risikoklasse I – wenn diese steril sind beziehungsweise über eine Messfunktion verfürgen – und aufwärts benötigen Hersteller für die CE-Kennzeichnung die Mitwirkung einer Benannten Stelle. „Der Weg dahin ist ein komplizierter Prozess, der auch die Produktionsprozesse umfasst und bei dem viele Normen und Standards einzuhalten sind“, so Kempf.

„Von der ersten Idee bis zum Inverkehrbringen eines neuen Medizinprodukts dauert es zwischen zwei bis fünf Jahre. Das heißt, man braucht einen langen Atem“, stellt Carius klar. „Dass ein Unternehmen nun erstmals komplexe Medizinprodukte zu fertigen beginnt, die in der jetzigen Krise einsetzbar sind, ist aufgrund der strengen Regularien praktisch nicht vorstellbar.“ Kempf bestätigt dies: „Ein schneller Switch vom Automobil- zum Medizintechnikhersteller ist nicht möglich.“

Doch Ausnahmen gibt es auch hier, wenn auch in Spanien: So montiert der zum Volkswagen gehörende Automobilhersteller Seat in einem Werk im spanischen Martorell nun Beatmungsgeräte statt Fahrgestelle für Autos. Die Beatmungsgeräte wurden gemeinsam mit einem Prototypen-Unternehmen aus Barcelona und der Unterstützung vieler Partner entwickelt – und inzwischen von der spanischen Zulassungsbehörde für Arzneimittel und Gesundheitsprodukte (AEMPS) für den klinischen Einsatz freigegeben. Nikolas Kuczaty, Geschäftsführer der AG Medizintechnik im VDMA, geht davon aus, dass Beatmungsgeräten in Spanien dringend benötigt werden, sodass die spanischen Behörden hier eine schnelle Sonderzulassung ermöglicht haben.

Auch die bloße Zulieferung von Bauteilen, die einer hohen Risikoklasse zugeordnet sind – wie zum Beispiel Schläuche, die in die Lunge eingeführt werden – ist nicht problemlos möglich. Carius: „Ein Hersteller eines Medizinprodukts der Risikoklasse III wechselt nur ungern seine Zulieferer, weil er dann unter Umständen selbst eine neue Zertifizierung benötigt.“

Neues Sonderzulassungsverfahren für Covid-19-Schutzmasken

Erleichterungen gibt es derzeit allerdings für Medizinprodukte im Bereich Infektionsschutzausrüstung, genauer gesagt geht es um Schutzmasken, die in den Bereich medizinischer Mund-Nasen-Schutz (MNS) – also zum Beispiel OP-Masken – sowie filtrierende Halbmasken (FFP2 und FFP3) fallen. Für sie hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm) am 6. April aufgrund des akuten Versorgungsengpasses ein Sonderzulassungsverfahren gemäß § 11 Abs. 1 des MPG erlassen. Das heißt, das reguläre Konformitätsbewertungsverfahren entfällt hier. Die Antragstellung erfolgt formlos. Hersteller von Medizinprodukten, die im direkten Zusammenhang mit der Situation zu Covid-19 stehen, füllen ein Formular aus und senden dieses zusammen mit einem formlosen Antrag auf Sonderzulassung nach § 11 MPG sowie aussagekräftigen Unterlagen per Mail an das Bfarm. In diesem Fall ist die Sonderzulassung derzeit außerdem kostenfrei.

Das Bfarm in Bonn bemüht sich derzeit sehr darum, die entsprechenden Sonderzulassungen möglichst zeitnah und unbürokratisch zu erteilen. „Wir können diese Sonderzulassung bei Vorliegen der entsprechenden Unterlagen in ein bis zwei Tagen aussprechen“, sagte Bfarm-Präsident Karl Broich kürzlich gegenüber der Tageszeitung General-Anzeiger Bonn. Dies bestätigt auch die Wirtschaftskanzlei Taylor Wessing, die Unternehmen bei den Lizenzanträgen berät. Zu ihren Klienten gehört der Wäschehersteller Mey, bei dem der Prozess für die Zulassung eines neuen Mund-Nasen-Schutzes, ein Medizinprodukt der Risikoklasse 1, eine Woche dauerte.

Unternehmen, die bislang noch keine Medizinprodukte hergestellt haben, haben eine weitere Besonderheit zu erfüllen, wenn sie nun medizinische Gesichtsmasken produzieren wollen: Sie müssen ihre Tätigkeit beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Dimdi) elektronisch über dessen Website anzeigen. Das Dimdi leitet die Anzeige an die zuständige Landesbehörde zur Registrierung weiter. Die Registrierung erst befugt Unternehmen, Medizinprodukte in Deutschland herzustellen und zu vertreiben.

Unternehmen, die Masken ohne CE-Kennzeichen in Deutschland in Verkehr bringen wollen, müssen diese von einem anerkannten Labor (siehe Infobox rechts) prüfen lassen hinsichtlich der Anforderungen, die in der Norm DIN EN 14683:2019–6 vorgegeben sind.

„Für Einführer und Vertreiber nicht CE-gekennzeichneter Produkte gelten dessen ungeachtet weiterhin die Anforderungen und Pflichten nach der PSA VO (EU) 2016/425“, mahnt Rechtanwältin Schuh. „Es bleibt aber dabei, dass der Einführer gewährleisten muss, dass der Hersteller das Konformitätsbewertungsverfahren durchgeführt hat. Die Empfehlung kann sich zugunsten der Einführer und Händler mittelbar insofern auswirken, als das Konformitätsbewertungsverfahren an sich unter erleichterten Bedingungen durchgeführt werden kann. Das heißt aber auch, dass Einführer wie Händler, die ihren Pflichten nach PSA-Verordnung zur Gewährleistung eines vereinfachten Konformitätsbewertungsverfahren nicht nachkommen, mit dem Straf- und Ordnungswidrigkeitenkatalog des deutschen PSA-Durchführungsgesetzes konfrontiert sind.“

Keine Sonderzulassungsverfahren
für additiv gefertigte Medizinprodukte

Die Lockerung der Zulassungsverfahren für Schutzmasken weckt weitere Begehrlichkeiten in der Industrie: So forderte auch Cecimo, der europäische Verband der Werkzeugmaschinenindustrie, für additiv gefertigt Medizinprodukte Sonderzulassungsverfahren. Cecimo-Mitglieder, die Schutzausrüstung fertigen wollten, beklagten die Blockade durch, regulatorische Anforderungen. Deshalb forderte der Verband die Politik auf, Additive-Manufacturing-Hersteller vorübergehend von den Anforderungen der Richtlinie über Medizinprodukte und Produkthaftung zu befreien. „Die Hersteller wollen helfen, aber eine solche Sonderregelung halte ich für gewagt“, betont VDMA-Experte Carius. „Die Gesetzgebung schreibt aus gutem Grund eine sorgsame Validierung von Medizinprodukten vor.“ Medical-Mountains-Mann Kempf kann nachvollziehen, dass bei einem akuten Bedarf kurzfristig die Zügel gelockert werden. „Langfristig aber müssen die bestehenden Standards und Normen eingehalten werden.“ ■


Die Autorin

Sabine Koll
Redaktion
Quality Engineering


Kostenlose Normen

DIN stellt in Absprache mit der Europäischen Kommission derzeit verschiedene, normalerweise kostenpflichtige Normen für medizinische Ausrüstung kostenlos zur Verfügung. Ziel ist es, dem wachsenden Mangel an Schutzmasken, -handschuhen und weiteren Covid-19-Produkten zu begegnen. Mit der Bereitstellung der Normen soll Unternehmen geholfen werden, die ihre Produktlinien umstellen wollen, um die so dringend benötigte Ausrüstung kurzfristig herzustellen. Der Einsatz von Normen kann dabei unterstützen, die Sicherheit von medizinischen Geräten und persönlicher Schutzausrüstung zu gewährleisten und Herstellern bei der Produktion praktische Hilfestellung zu geben. Zu den im Covid-19-Rahmen relevanten Normen für Masken gehören die DIN EN 14683 Medizinische Gesichtsmasken für Medizinprodukte sowie die DIN EN 149 für Persönliche Schutzausrüstung.


Prüfstellen für Atemschutzmasken

Als geeignete Prüfstellen für Covid-19-Atemschutzmasken nennt die Zentralstelle der Länder für Sicherheitstechnik:

Darüber hat das SKZ in Würzburg angekündigt, ab Ende Mai Prüfungen an Atemschutzmasken (FFP 1, FFP 2 und FFP 3) durchzuführen – etwa hinsichtlich Einatem- und Ausatemwiderstand sowie Durchlass von Partikeln.

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