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BAM-Manager Hilgenberg: Datencontainer ersetzen die CT

Interview zur Qualitätssicherung in der additiven Fertigung
BAM-Manager Hilgenberg: Datencontainer ersetzen die CT

BAM-Manager Hilgenberg: Datencontainer ersetzen die CT
Dr. Kai Hilgenberg: „In QI-Digital wollen wir digital und automatisiert Daten erheben und für die Qualitätssicherung nutzbar machen, da bietet die additive Fertigung ­eine Reihe von einzig­artigen ­Möglichkeiten.“ Bild: BAM
BAM-Manager Dr. Kai Hilgenberg verrät, warum für die Qualitätssicherung in der additiven Fertigung Daten entlang der ganzen Prozesskette das A und O sind.

» Sabine Koll

Herr Dr. Hilgenberg, warum wurde das Pilotprojekt für die Qualitätssicherung in der additiven Fertigung im Rahmen von QI-Digital aufgesetzt?

Die additive Fertigung ist immer noch eine junge Disziplin, sodass hier noch kein etabliertes System der Qualitätssicherung besteht. Das schafft uns Freiräume für neue Lösungen und Ideen. Zugleich hören wir aus der Wirtschaft zunehmend, dass neue Methoden für eine zuverlässige und auch wirtschaftliche Qualitätssicherung für additiv gefertigte Bauteile dringend gebraucht werden. In QI-Digital wollen wir deshalb digital und automatisiert Daten erheben und für die Qualitätssicherung nutzbar machen, da bietet die additive Fertigung eine Reihe von einzigartigen Möglichkeiten. Zusätzlich verknüpfen wir dies mit den Werkzeugen und Prozessen einer digitalen Qualitätsinfrastruktur (QI), also zum Beispiel Smart Standards oder automatisierten, maschinenlesbaren Zertifikaten.

Bislang sind AM-Herstellungsbetriebe in Bezug auf Qualitätssicherung mehr oder minder auf sich selbst gestellt. Es gibt noch wenige Standards/Normen. Der Aufwand ist hoch. Welche Hilfe wollen Sie diesen Unternehmen konkret anbieten?

Wir wollen in dem Pilotprojekt zeigen, was möglich ist: Wie Daten automatisiert von den Fertigungsanlagen ausgelesen und verarbeitet werden können, welche weiteren Methoden der sogenannten In-situ-Prozessüberwachung von Vorteil sind und wie wir die gewonnenen Daten für die Qualitätssicherung nutzen können. Dabei verwenden wir bereits bestehende Schnittstellen der Anlagen, aber auch neu entwickelte Sensoriken. Wir wollen zeigen, wie diese Daten zusammengenommen für die Erstellung von digitalen Prüfberichten eingesetzt werden können, etwa um die Konformität mit bestehenden Regelungen oder Kundenanforderungen zu erklären. Der nächste Schritt ist es, die gewonnenen Erkenntnisse zusammen mit Unternehmen anwendungsorientiert weiterzuentwickeln.

Ein wesentlicher Punkt im Projekt ist die digital vernetzte Testumgebung. Steht diese?

Ja, die Testumgebung ist einsatzbereit. Wir haben an der BAM in Berlin eine Produktionskette für die additive Fertigung aufgebaut. Uns war es wichtig, Anforderungen der Industrie in der Testumgebung abdecken zu können. Daher arbeiten wir zum Beispiel mit einer Laser-Powder-Fusion-Anlage mit vier Lasern, wie sie auch in der Industrie zum Einsatz kommt. Weiterhin ist eine Anlage für das Wire-Arc-Additive-Manufacturing Bestandteil der Testumgebung. Wir decken damit zwei wesentliche AM-Verfahren im Pilotprojekt ab. Die Prozesskette berücksichtigt außerdem die anschließende Wärmebehandlung sowie eine Vermessung mittels 3D-Scanner sowie die Computertomografie, derzeitig immer noch der „Gold-Standard“ für die Qualitätssicherung in der additiven Fertigung.

Ihr Ziel ist es, dass man die Daten entlang der Prozesskette vom CAD-Modell über den Werkstoff und den eigentlichen Fertigungsprozess bis hin zum fertigen Bauteil künftig mithilfe eines Datencontainers miteinander in Bezug setzen kann. Was ist heute das Problem, wenn man dies tun will?

Bereits jetzt gibt es eine Vielzahl von Daten, die prinzipiell für eine Qualitätsbewertung zur Verfügung stehen. Insbesondere wenn zeitlich oder räumlich hochauflösende Sensoren der Prozessüberwachung mit ins Boot kommen, steigt der Datenumfang erheblich. Bisher ist nicht klar, welche dieser Daten für eine Qualitätsbewertung benötigt werden, welche Daten relevant sind und welche nicht. Zudem liegen die Daten alle in unterschiedlichen Formaten vor, beispielsweise mit einem Zeitstempel versehen oder mit Koordinaten innerhalb einer Bauebene. Das macht die Zuordnung und Auswertung der Sensorsignale kompliziert. Unser Ansatz ist es, einen einheitlichen, anlagenunabhängigen Datencontainer zu entwickeln, der sehr unterschiedliche Daten aufnehmen und auf die Geometrie des Bauteils beziehen kann, wir sprechen hier von Datenregistrierung. Damit wird es möglich, für einen Punkt des Bauteils zu prüfen, ob hier Sensordaten vom Soll abweichen und insbesondere auch unterschiedliche Sensordaten gemeinsam zu betrachten.

Welche Strategie verfolgen Sie dabei: Möglichst viele Daten sammeln oder nur die wesentlichen?

In unserer Testumgebung arbeiten wir im ersten Schritt daran, zunächst möglichst viele Daten zu erheben. Wir haben ein Versuchsprogramm erarbeitet, das eine Reihe von Einflüssen auf den Bauprozess abdeckt und variiert, und aktuell genutzt wird, um umfassend Sensordaten aufzunehmen. Im zweiten Schritt werden wir dann die Daten mit Aufnahmen der Computertomografie vergleichen und damit Korrelationen zwischen Signalen und möglichen Fehlstellen identifizieren. Hier greifen wir bereits auf den Datencontainer mit seiner Datenregistrierung zurück. Damit können wir Aussagen über die Relevanz der Daten gewinnen, die zukünftig für eine zielgerichtete Datenaufnahme genutzt werden können. Das wird den Datenumfang deutlich reduzieren, zum Beispiel, indem man nur solche Daten aufnimmt, die auch tatsächlich signifikante Abweichungen zeigen. Der Datencontainer ist damit also nicht nur ein Werkzeug für die spätere Anwendung, sondern auch für die Forschung.

Wie kann ein universelles Austauschformat für die Additive Fertigung aussehen?

Ein solches Format muss in erster Linie herstellerunabhängig sein. Viele Anwender nutzen Anlagen unterschiedlicher Unternehmen, ein Austauschformat muss hier für die Dokumentation und Auswertung eine Vereinheitlichung herbeiführen. Dabei ist es wichtig, eine gemeinsame Terminologie zu nutzen, eine Aufgabe, die in der Normung bereits angegangen wird. Der von uns entwickelte Datencontainer kann dabei als Teil eines universellen Austauschformats gesehen werden.

Ist denn heute genügend Sensorik in AM-Fertigungssystemen vorhanden?

Bereits jetzt sind industrielle Anlagen mit einer Reihe von Sensoren ausgestattet, die beispielsweise im Laser-Powder-Bed-Fusion-Prozess die Gaszusammensetzung im Bauraum überwachen oder Bilder der einzelnen Bauschichten aufnehmen. Besondere Bedeutung haben Sensoren, die lokal Temperaturen der aktuellen Schicht im Aufbauprozess auflösen können, da diese Hinweise auf kritische Prozessabweichungen geben, die zu Fehlstellen führen. An der Laser-Powder-Bed-Fusion-Anlage haben wir ein kommerzielles Melt-Pool-Monitoring im Einsatz, aber auch BAM-eigene Systeme auf Basis der optischen Tomografie und Thermografie. Unsere Hoffnung ist, dass wir damit die Computertomografie langfristig obsolet machen können, da diese teuer ist, bei größeren Bauteilen an Grenzen stößt und insbesondere KMU vor große Herausforderungen stellt.

Spielt künstliche Intelligenz/Machine Learning hier eine Rolle?

Ja, tatsächlich wird Machine Learning eingesetzt, um Korrelationen in den großen Datenmengen der Sensoren mit den Daten der Computertomografie zu gewinnen, die dann für eine spätere Defektprognose eingesetzt werden können. Erste Ergebnisse sind sehr vielversprechend. Das ML kann hier aufgrund der großen Datenmengen unterschiedlicher Datenquellen vorteilhaft eingesetzt werden.

Ziel des Projekts ist auch die automatisierte Erstellung eines digitalen Prüfberichts. Welche Mess- und Prüfverfahren sollen hier Eingang finden? Ist hier auch an die Materialqualifizierung gedacht?

Der Prüfbericht ist das Ergebnis der automatisierten Anwendung von Kriterien auf den Datencontainer. Ist dieser vollständig? Sind Daten entsprechend den Vorgaben erhoben worden? Sind die Daten in einem zulässigen Bereich? Dies soll in dem Prüfbericht zusammen mit Daten zur Identifikation des Bauteils dokumentiert werden. Welche genauen Mess- und Prüfverfahren letztlich zum Einsatz kommen müssen und was ein zulässiger Bereich für die Daten ist, das ist hochgradig anwendungsspezifisch. Hier wird jede Branche eigene Kriterien entwickeln und anwenden wollen. Unsere Aufgabe ist es zu demonstrieren, dass die Anwendung dieser Kriterien auf den Datencontainer und die Erstellung eines Prüfberichtes grundsätzlich funktionieren.

Der digitale Prüfbericht kann Teil von Quality-X für den vertrauensvollen Informationsaustausch zwischen Partnern werden. Wie weit ist dieses Projekt aktuell?

Die Digitalisierung soll nicht beim Prüfbericht enden, sondern auch dessen weitere Nutzung soll digital erfolgen, etwa im Austausch mit Bereitstellern von Normen, Konformitätsbewertungsstellen, Kunden oder Behörden. Dafür wurde das Konzept Quality-X erarbeitet, das einen sicheren, vertrauenswürdigen und souveränen Informationsaustausch über harmonisierte Schnittstellen ermöglicht. Quality-X ist eine Plattform, über die sich Institutionen zukünftig vernetzen können, um qualitätsrelevante digitale Assets wie Smart Standards, digitale Konformitätsnachweise und letztendlich auch digitale Produktpässe auszustellen, zu verteilen, zu verfolgen und zu verifizieren. Hierfür arbeiten wir mit den Partnern in QI-Digital an den Grundlagen und ersten Prototypen.

Welche Partner sind für welche Aufgaben am Projekt beteiligt?

Wir arbeiten in QI-Digital zusammen mit der Dakks, DIN, DKE und PTB, das heißt mit den wesentlichen Akteuren der deutschen Qualitätsinfrastruktur. Dabei geht es uns nicht nur um die Entwicklung der technischen Lösungen für eine digitale QI, sondern wir adressieren auch die Rahmenbedingungen, wie beispielsweise Anpassungsbedarfe im Rechtsrahmen, und investieren viel in den Stakeholder-Dialog und Transfermaßnahmen. Wir arbeiten mit den Herstellern der Anlagen in unserer Testumgebung zusammen, da es einen engen Austausch bedarf, die Anlagendaten zu erheben und zu interpretieren. Zudem haben wir einen begleitenden Expertenkreis gegründet, bei dem eine Reihe von Anlagenherstellern und Anwendern vertreten sind, um die Ergebnisse zu diskutieren und Anforderungen aufzunehmen. Wir sind bereits jetzt dabei, erste Ergebnisse zu publizieren.

Welche Normen/Standards könnten künftig aus dem Projekt heraus erfolgen?

Wir sehen eine ganze Reihe von normierungswürdigen Inhalten des Projektes. Vor allem im Bereich der industriellen Datengewinnung und -verarbeitung befindet sich die additive Fertigung noch in den Kinderschuhen. Zusammen mit dem Expertenkreis konnten wir bereits einen ersten Normentwurf erarbeiten, der die Standardisierung der auszugebenden Daten von Laser-Powder-Bed-Fusion-Anlagen zum Ziel hat. Wir sind sehr froh, dass wir diesen Entwurf zusammen mit einer Reihe von Anlagenherstellern erstellen und – ganz aktuell – bei ISO einreichen konnten. Aus unserer Sicht ist dies ein erster wesentlicher Schritt, die Datenaufnahme entlang der Prozesskette zukünftig zu vereinfachen.


Whitepaper zu Quality-X

Das Konzept Quality X, entwickelt von BAM und PTB, soll die Grundlagen schaffen, um ein QI-Ökosystem in internationalen Datenräumen (IDS), Gaia-X und verwandten deutschen und europäischen Projekten zu implementieren. Es integriert dezentrale Identifikatoren, überprüfbare Berechtigungsnachweise und Identitäts-Hubs, um eine reibungslose Interaktion zwischen den Systemen verschiedener Dienstanbieter zu ermöglichen. QI-Akteure können digitale Assets wie digitale Produktpässe, Smart Standards und digitale Zertifikate sicher ausstellen, verteilen, verfolgen und verifizieren. Ein Whitepaper zu Quality X steht auf der Website von QI-Digital zum Download zur Verfügung:

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