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EFQM Forum 2010

Chaordic Leadership – oder wo endet Europa?
EFQM Forum 2010

EFQM Forum 2010
Die Autorin Birgit Otto BSc MA, BO Consult, Services for Excellence, Ostfildern
Die Schlaglichter beim EFQM Forum 2010 in Bilbao: Der Wandel ist keine Zukunftsvision mehr – Liebe zum Chaos als Managementaufgabe – EFQM-Mitglieder profitieren von der internationalen Public-Private Community – EEA Preisverleihung: Zum zweiten Mal kein Preis verliehen, acht Finalisten, fünf Ausgezeichnete.

“Wir leben in chaotischen Zeiten: Genießen Sie das – Es wird nicht mehr anders!” rief Lotfi El-Ghandouri den etwa 300 Teilnehmern des diesjährigen EFQM Forums zu, das vom 5. bis 7. Oktober 2010 in Bilbao stattfand.

Chaordic Leadership für Innovation
El-Ghandouris Vortrag, wie wir Menschen, die viele Jahrzehnte zur Ordnung erzogen wurden, dafür begeistern müssen, sich dem Chaos als einem kreativen Dauerzustand zu stellen, erzielte nachhaltig Wirkung. Noch beim „Networking Café“ am Folgetag diskutierten die Teilnehmer seine These vom „Chaordic Leadership“ – als einer gelungenen Mischung aus Chaos und Ordnung. Diese Form der Führung müsse sich darauf konzentrieren, so der Kanadier mit bunt-gemischtem Migrationshintergrund in der eigenen Familie, keine Lösungen anzustreben, sondern eine Kultur der Flexibilität zu schaffen, in der Menschen schnell auf Veränderungen reagieren können. Zu dieser Kultur gehöre auch Risikobereitschaft. „Wenn ich aber lese, dass 59% aller Top Führungskräfte sich nur ungern einem Risiko aussetzen“ so Lotfi El-Ghandouri weiter, „dann muss man sich schon Gedanken machen, ob das noch die richtigen Führungskräfte für das 21. Jahrhundert sind.“
Wie schwer es ist, sich aus der Welt der antrainierten Ordnung zu verabschieden, zeigte El-Ghandouri an einem Experiment. Er rief das Publikum auf, ein Haus zu zeichnen. Dann noch ein Haus, und noch ein Haus – und noch ein Haus. Diese Aufforderung wiederholte er solange, bis jeder im Publikum zehn Häuschen auf einem Blatt Papier gemalt hatte. Das Ergebnis: So gut wie jeder hatte mit dem berühmten „Haus vom Nikolaus“-Format angefangen, und sich erst ab dem vierten, fünften Häuschen von den verinnerlichten (westlichen) Hausformen verabschiedet.
Diese praktische Übung zeigte, wie schwierig es ist, das Neue zu umarmen, solange die alten Formen in unseren Köpfen kleben. „Machen Sie sich Gedanken, in welchen Umgebungen (engl. spaces) Sie leben und arbeiten“, so El-Ghandouri, „Ändern Sie Ihre Umgebung, damit Chaordische Führung überhaupt erst möglich wird.“ Als Beispiel nannte er den Cirque du Soleil, in dessen Hauptquartier die Arbeitsräume so angeordnet seien, dass auch die Buchhalter die Artisten bei der Arbeit beobachten könnten, mit einem interessanten Effekt: Mitarbeiter hätten die Artisten beobachtet, wie sie täglich mit großer Geschwindigkeit an einer Wand hoch rannten. Was für die Artisten nichts als eine Aufwärmübung war, war für Laien so faszinierend, dass daraus heute eine neue Nummer des Cirque du Soleil geworden sei. El-Ghandouri selbst hatte „Hub“s ins Leben gerufen – Kreativräume, in denen Menschen aus den unterschiedlichsten Lebenssituationen aufeinanderprallen (z.B. Hub in Berlin oder London), um in ungewöhnlichen Räumen Ungewöhnliches zu denken und zu ersinnen. Diese Form der Neuordnung, so der Kanadier, sei eine wichtige Voraussetzung für Innovation. „Kreativität bedeutet, Dinge miteinander in Beziehung setzen zu können“, so seine kurze Definition, „Nur wenn daraus etwas für die Menschheit Nützliches wird, ist es eine Innovation.“
Neben einem der Kreativität und Innovation förderlichen physischen Umfeld, sei auch die psychische Einstellung von Bedeutung, wolle man Menschen aus dem Ordnungsraum herauslocken, in dem sie es sich bequem gemacht haben: „Feiern Sie jeden kleinen Erfolg“, riet El-Ghandouri. Man könne heute weniger als jemals zuvor vorhersagen, aus welcher Ecke und durch welchen Anstoß eine bahnbrechende Innovation und ein neues Geschäft komme. „Wissen Sie vor wem Facebook-Gründer Mark Zuckerberg Angst hat?“ fragte der schwarz-gelockte junge Mann munter in die Runde. „Nicht vor den existierenden Mitbewerbern Sozialer Netzwerke, sondern vor den Studenten in den Universitäten dieser Welt, die ihm mit einer neuen Idee die Butter vom Brot holen könnten, wie er es tat, als er Facebook gegründet hat.“
Räume für Kreativität und Innovation
Wie schwer sich Innovation und Kreativität auch heute noch tun, zeigten die sich anschließenden Parallelveranstaltungen, die inhaltlich zwar um Themen wie „ Open Innovation“, „Innovation als Auslöser für die Schaffung von Arbeitsplätzen und regionale Entwicklung“, „Innovation und Kreativität“ sowie den „EFQM-Rahmen Innovation“ kreisten, aber formal in traditionellen Räumen stattfanden. Die Moderatoren gaben ihr Bestes, um das architektonisch frontale Format in einen interaktiven Workshop zu verwandeln. Die Notwendigkeit von „Kreativ-Hubs“, um dem Denken und Handeln eine neue Richtung zu geben, hätte jedoch nicht anschaulicher vor Augen geführt werden können.
Innovation Good Practice
Immer wieder faszinierend bei der EFQM Community ist die freundschaftliche Verbindung, die zwischen Menschen aus privaten und öffentlichen Unternehmen knüpfen. So stellten sich beim „Innovation Good Practice“ Wettbewerb in der Finalrunde sechs Finalisten dem Publikum und einer Jury, bestehend aus EFQM-Chef Pierre Cachet sowie Patrick Coulier von “Activity” und Eduardo Rodriguez von 3M Spanien. Gewinner wurde EGA Master, ein baskischer Werkzeughersteller, der durch seine kompromisslose Kundenorientierung bei Design und Bau kundenspezifischer Werkzeuge brillierte. Ebenfalls ausgezeichnet wurde die baskische Privatschule „Colegio Urkide“, die die Jury durch ein eigens entwickeltes Anti-Mobbing-Programm beeindruckte, das die Schule in Spanien bereits breit verbreitet hat (ein zentrales Anliegen von Excellence und der EFQM Gemeinde, wie der Slogan „EFQM shares what works“ zeigt) und derzeit in andere Sprachen übersetzt, um dem Problem des Mobbing in Schulen aktiv entgegen zu wirken. Last but not least, überzeugte das baskische Galdako Krankenhaus, in dem die OP-Schwestern für ihre Kolleginnen den Stapel von Handbüchern in ein internet-basiertes Medium mit Text, Bildern, Videos und interaktiven Teilen überführten. Durch Befragung wissen sie, dass 98% der Benutzerinnen zufrieden und 52% sogar sehr zufrieden mit dieser Neuerung sind.
Antonella Broglia beschloss den ersten Forumstag mit ihrem leidenschaftlichen Plädoyer, dass Management eine Kunst sei und wie eine Skulptur gestaltet werden müsse.
Finalisten und Ausgezeichnete
Der Abend war der Feier des diesjährigen EEA-Wettbewerbs gewidmet. Etwa 400 Gäste trafen sich im Kongresszentrum von Bilbao. Wie viele Gebäude in der Stadt repräsentiert es den Willen ihrer Bewohner die reiche, aber schmutzige Stahlstadt zu einer Stadt des 21. Jahrhunderts umzugestalten. Die zahlreich auftretenden Vertreter der Politik aus Stadt, Baskenland und Spanien betonten in ihren Ansprachen die Bedeutung von EFQM als bindendes Element zur Erneuerung einer gesamten Region. Eine nicht unbedeutende Rolle spielt Euskalit, die baskische Organisation zur Förderung des Qualitätsmanagements, die den Excellence Gedanken in alle Branchen streut und -wie die Initiative Ludwig-Erhard-Preis (ILEP) in Deutschland – das EFQM Modell als Managementsystem nutzt und im Rahmen von „Recognized-for-Excellence“ (R4E) ausgezeichnet wurde. Leider wurde bereits zum zweiten Mal hintereinander in keiner der vier definierten Kategorien (Große oder kleine Perspektive sowie gewinnorientiert oder nicht-gewinnorientier) der EEA-Award verliehen. Die Jury beschränkte sich auf acht Auszeichnungen an fünf Organisationen sowie acht Ernennungen zum Finalisten an einen bunten Strauß von Bewerbern (siehe Kasten). „Das spiegelt die Lage europäischer Organisationen wider“, meint EFQM-Präsident Marc Durham. Schließlich sei es noch nicht ausgemacht, wie die westliche Welt nach der großen Wirtschaftskrise dastehen werde.
Innovation aus allen Ecken
Schon Tradition am Tag nach der Preisverleihung: Das Networking Café, durch das sich die Forumsteilnehmer schnell vernetzten und gemeinsam eine Zwischenbilanz zogen, wie ihnen das EFQM Forum gefiel. Die anschließende Podiumsdiskussion über Innovation war gut besetzt: Jorge Lopez von 3M Iberia, Spanien, Georg List von der niederländischen Boos & Company, K. Dinseh von Infosys Technology in Indien und Juan Antonio Zufiria von IBM. Die Experten waren sich einig: Heute kann Innovation aus allen Teilen einer Organisation kommen, nicht nur aus der F&E-Abteilung oder den Laboren. Auch das weltweit vorhandene Talent ist so groß wie nie zuvor: 99% aller Wissenschaftler, die je auf der Erde lebten, leben heute auf ihr. Management von Innovation muss sich darauf konzentrieren, die Basis für Innovation zu schaffen, ein kreatives Umfeld und beim ersten Anzeichen einer neuen Idee, die Flexibilität, etwas daraus zu machen. Kritisch äußerten sich die Diskutanten über das, was fälschlicherweise immer noch als Benchmarking verstanden wird, den starren Vergleich mit dem Mitbewerber. Man verlöre dabei doch allzu leicht den Kunden als den wahren Grund für Innovation aus den Augen.
Harry West schließlich gab von seinem Wissen preis, das er sich als externer Entwickler neuer Produkte über die Jahre angeeignet hat. „Stellen Sie sicher, dass Sie in Ihrer Organisation klar vier „Spaces of innovation“ definiert haben, die sich in ihrer Art deutlich unterscheiden, aber alle eine wichtige Rolle für die Innovation spielen (siehe Kasten).
EFQM ist da, wo seine Mitglieder sind
Wo endet Europa? Verschleierte Teilnehmerinnen und Sponsoren aus Abu Dhabi erschienen vielen Basken und ihren europäischen Gästen noch als exotisches Beiwerk – wie geht das mit der eurozentrischen Vision von EFQM überein? EFQM-Präsident Marc Durham salomonisch: „Da, wo unsere Mitglieder sind, da ist EFQM.“ Nachdem viele der Mitglieder (und der von der EFQM angestrebten Zielgruppen) international tätige Unternehmen seien, sei es nur konsequent, dass sich auch EFQM international ausrichte. Mit dem EFQM-Excellence Model böte die EFQM einen Managementrahmen, der zwar aus der europäischen Tradition stamme, aber global erfolgreich sein könne.
Kontakte: In Europa: www.efqm.org in Deutschland: www.ilep.de

EEA2010

gewagt, gewonnen

Preis (Award): Keine Vergabe
Ausgezeichnete (Prize): VAMED-KMB, Österreich; Bradstow School, Britannien; Olabide Ikastola, Spanien; Eskisehir Maternity and Child Illness Hospital, Türkei; Staatliche Landwirtschaftsuniversität Stavropol, Russland.
Finalisten (Finalist): Alpenresort Schwarz, Österreich; Dr. Becker & Ass., Luxemburg; Siemens Congleton, Britannien; Worthington Cylinders, Österreich; Robert Bosch Fahrzeugelektrik Eisenach GmbH, Deutschland; domino-world, Deutschland; Osakidetza-Comarca Gipuzkoa Ekialde, Spanien; Liverpool John Moores University, Britannien.

Die vier Innovationsräume

Harry West:

  • 1. Executive Space – Führungsraum. Bejahen sie die Tatsache, dass Sie nichts wissen können, da die Innovation etwas Neues hervorbringen wird, von dem Sie jetzt noch nicht wissen, was es sein wird. Treten Sie nicht als Sponsor eines Innovationsprojekts auf, sondern seien Sie ein aktiver Teil der Innovation. Hier zählt persönlicher Einsatz.
  • 2. Customer Space – Kundenraum. Studieren Sie das Verhalten von Menschen sehr genau. Gehen sie dahin, wo die Menschen sind. Schauen Sie genau hin. Hier zählt der „Originalton“.
  • 3. Project Space – Projektraum. Schaffen Sie einen Raum, in dem sich Dinge natürlich entwickeln können. Menschen müssen in der Lage sein, das Neue mit der eigenen Erfahrung verknüpfen zu können/ zu wollen. Hier zählt die bunte Mischen von Menschen, die an das Projekt andocken.
  • 4. Testing Space – Testraum. Entwickeln Sie das neue Produkt, indem sie sehr schnell Prototypen entwickeln, diese testen und verfeinern. Hier zählt Tempo.
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