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ISO 9001:2008

Die kleine Revolution im Verborgenen
ISO 9001:2008

ISO 9001:2008
Mit der Novellierung der ISO 9001:2008 legt die International Standard Organisation ein Werk vor, das seine Aktualität nur im Detail preisgibt. Ein Blick ins Innere der Norm lohnt sich umso mehr.

Die neue weltweit gültige Norm für Qualitätsmanagement-Systeme erschien erst im November 2008. Naturgemäß hatte sie bis zu ihrer Ratifizierung einen gehörigen zeitlichen Vorlauf. Es steht also zu vermuten, dass die Änderungen im Verhältnis zur Vorgängerin ISO 9001:2000 angesichts des Kollaps der weltweiten Finanzwirtschaft mit einem etwas späteren Datum deutlich rigider hätten ausfallen können.

Dennoch zeigt die novellierte Norm bei genauerer Betrachtung durchaus, dass ihre Weiterentwicklung im Wesentlichen der Notwendigkeit von etwas geschuldet ist, das man systemimmanente Selbstkontrolle nennen könnte. Gerade weil diese Veränderung nur in der Veränderung von Begriffen und Halbsätzen zu erkennen ist, lohnt sich der aufmerksame Blick auf die Details…
Qualitätsprozess als Mutter aller Geschäftsprozesse
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich nämlich: Durch diese Details formiert sich die Norm an einem bestimmten Punkt neu: Sie erwartet von den Management-Systemen jetzt ein wenig expliziter, dass sie einerseits von den Menschen im Unternehmen – insbesondere natürlich von der Führungsebene – nicht nur getragen, sondern verantwortlich kontrolliert wird. Und andererseits fordert sie vom System auch noch deutlicher als früher, seine Kontrollinstrumente so zu gestalten, dass auch die (interne) Kontrolle über den gesamten Wertschöpfungsprozess hinweg zum Qualitätsprozess wird. Damit schließt sie Nischen (oder Möglichkeiten, sich herauszureden), die es bisher noch gab. Der Qualitatsprozess und sein Management durch das alle unternehmerischen Vorgänge abtastende Qualitätsmanagement-System rückt aus dem Schattendasein des eher administrativen Vorgangs heraus und wird endgültig zum strategischen Instrument des Unternehmers.
Wichtung des interaktiven Handelns
Ein erstes Beispiel für diesen neuen Schwerpunkt zeigt der Punkt 4.1. (Allgemeine Anforderungen). Dort heißt es:
„Wenn sich eine Organisation dafür entscheidet, einen Prozess auszugliedern, der die Produktkonformität mit den Anforderungen beeinflusst, muss die Organisation die Lenkung derartiger Prozesse sicherstellen. Die Art und der Umfang der Lenkung derartiger ausgegliederter Prozesse müssen im Qualitätsmanagementsystem festgelegt sein.“
Beachtlich ist hier, dass der Text durch den Austausch eines einzigen Wortes seinen Sinn verändert. Anstatt dem bisher verwendeten Wort „erkennbar“ fordert die Norm nun, dass auch ausgegliederte Prozesse „festgelegt“ werden müssen.
Supply Chain und Unternehmerverantwortung
Damit endet die Verantwortung des Unternehmens und seiner Führungskräfte im Sinne des Supply Chain Managements auch in der Auslegung der neuen Qualitätsmanagement-Norm nicht mehr an seiner Haustür. Die Norm setzt an dem Punkt an, der im Grunde schon seit Jahrzehnten die Realität beherrschte: Sie findet einen neuen Umgang mit der Tatsache, dass nahezu kein Unternehmen eine Wertschöpfungstiefe von 100% hat und die Beherrschung der daraus resultierenden Arbeitsteilung zwischen den Unternehmen. So definiert die Norm es in der Anmerkung 2:
„Ein ausgegliederter Prozess ist ein Prozess, der für das Qualitätsmanagementsystem der Organisation notwendig ist, bei dem jedoch entschieden wurde, dass er durch eine externe Partei auszuführen ist.“
Diese supply chain orientierte Sichtweise setzt die Norm jetzt konsequenter auf nahezu allen Ebenen durch. Insbesondere auf der Ebene der Dokumentation, besonders in Punkt 4.2.3 (Lenkung von Dokumenten) in dem der Absatz (f) an entscheidender Stelle verändert wurde:
„Ein dokumentiertes Verfahren zur Festlegung der erforderlichen Lenkungsmaßnahmen muss eingeführt werden, um (…)
f) sicherzustellen, dass Dokumente externer Herkunft, die die Organisation als notwendig für die Planung und den Betrieb des Qualitätsmanagementsystems eingestuft hat, gekennzeichnet werden und ihre Verteilung gelenkt wird, (…)“
Analysen entgangener Geschäfte
Die unternehmensübergreifende Verpflichtung des Principals in der Wertschöpfungskette wird übrigens auch im Punkt 8.2.1 (Kundenzufriedenheit) weiter verdichtet. In einer neu hinzu gekommenen Anmerkung wird hier, wohl auch im Hinblick auf datenschutzrechtliche Aspekte, folgendermaßen präzisiert:
„ANMERKUNG Die Überwachung der Wahrnehmung des Kunden darf beinhalten: Erlangung von Eingaben aus Quellen, wie zum Beispiel Kundenzufriedenheitsermittlungen, Kundendaten in Bezug auf die Qualität des gelieferten Produkts, Umfragen unter den Nutzern, Analysen entgangener Geschäftsabschlüsse, Anerkennungen, Forderungen nach Garantieleistungen, Berichte von Händlern.“
Es lohnt sich, das Augenmerk hier insbesondere auf das in der Anmerkung angesprochene Stichwort der „Analysen entgangener Geschäfte„ zu richten: Durch diesen kleinen und sicherlich allzu oft überlesenen Zusatz wird die neue Norm eindeutig zum Instrument der strategischen Unternehmensführung und Existenzsicherung des Unternehmens erklärt. Das Qualitätsprinzip der Analyse, Dokumentation und Lenkung von Informationen wird vom gelungenen Geschäftsprozess auf misslungene Geschäftsprozesse ausgedehnt. Die Frage, die das Qualitätsmanagement-System stellt, lautet fortan – wenigstens potenziell – nicht mehr: „Wie muss das Management von normgerechter Qualität aussehen?“ Sondern eher schon: „Wie macht man Unternehmen durch die Einhaltung der Qualitätsmanagement-Norm erfolgreicher.“
Das Management verpflichtet sich selbst
Diese Sichtweise wird übrigens auch in einer weiteren kleinen, aber bei genauerer Betrachtung zentralen Änderung deutlich: Punkt 5.1. (Verpflichtung der Leitung) formuliert die novellierte Ausgabe der Norm:
Die oberste Leitung muss ihre Selbstverpflichtung bezüglich der Entwicklung und Verwirklichung des Qualitätsmanagementsystems und der ständigen Verbesserung der Wirksamkeit des Qualitätsmanagementsystems nachweisen, (…)
Im Unterschied zur 2000er Novellierung, in der es hieß, die oberste Leitung müsse ihre „Verpflichtung“ nachweisen, ist es jetzt nicht mehr die Norm, von der die oberste Leitung zu etwas verpflichtet werden muss. Die 2008er Version geht nun davon aus, dass die oberste Leitung sich ohnehin selbst verpflichtet. Mit dieser Formulierung durchbricht die 2008er Novellierung auch ein wenig – diese Interpretation sei erlaubt – die immer noch anzutreffende Denkweise, dass Qualitätsmanagement gewissermaßen nur ein nötiges Übel oder eine quasi administrative Tätigkeit sein könnte, bei der es im Endeffekt um die Überreichung von Qualitäts-Zertifikaten geht. Der Begriff der nachgewiesenen Selbstverpflichtung katapultiert die Norm in die Welt der unternehmerischen, organisatorischen und strategischen Erfolgsfaktoren.
Entscheidungsfreiheit
Diese neue Denkweise findet durchaus auch in anderen ebenfalls nur leicht veränderten Punkten ihren Ausdruck. So zum Beispiel auch in Punkt 7.2.1 (Ermittlung der Anforderungen in Bezug auf das Produkt) – hier insbesondere in Absatz d:
„d) alle weiteren von der Organisation als notwendig erachteten Anforderungen.“
Die eigentliche Brisanz der Formulierung zeigt sich im Vergleich mit ihrer Vorgängerversion, in der noch von Anforderungen die Rede war, die von der Organisation „festgelegt“ worden sind. Die Notwendigkeit, auf die von der Norm rekurriert wird – auch diese Interpretation sei erlaubt – ist fortan keine einfache organisatorische Festlegung, sondern basiert auf einer unternehmensstrategischen Entscheidung. Sie gibt die Antwort auf die Frage: „Was braucht mein Unternehmen, um am Markt erfolgreich zu sein?“
Neue Geschäftsfelder?
In diesem – unternehmensstrategischen – Zusammenhang kann auch eine weitere ergänzende Anmerkung gesehen werden, die dem genannten Punkt 7.2.1 (Ermittlung der Anforderungen in Bezug auf das Produkt) beigefügt wurde. Dort heißt es:
„ANMERKUNG:Tätigkeiten nach der Lieferung sind zum Beispiel: Maßnahmen aufgrund von Gewährleistungsbestimmungen, vertragliche Pflichten wie Instandhaltung, und ergänzende Dienstleistungen wie Wiederverwertung oder Entsorgung.“
Durch diese Erweiterung bzw. Präzisierung greift die Norm bei genauerer Überlegung jetzt noch deutlicher Tätigkeiten auf, die über das klassische – quasi an der Eingangs- oder Ausgangstür des Unternehmens endende Bild der unternehmerischen Leistungserbringung bzw. Produktlieferung hinaus gehen. Sie deckt mit der Hinzunahme der Begriffe Wiederverwertung und Entsorgung auch den gesamten Lebenszyklus von Produkten ab. Nicht zuletzt aber scheint diese Anmerkung auch dem Umstand geschuldet zu sein, dass eben gerade praktisch jedes Unternehmen im supply chain orientierten Ansatz seinen Kunden mehr verkaufen kann, als nur seine Produkte oder Kernleistungen. Vertraglich geregelte Instandhaltung oder das Angebot von Wiederverwertung und Entsorgung können – um es einmal auf neudeutsch zu sagen – als Product Enrichment begriffen werden, mit denen das Unternehmen sich Kundentreue oder gar zusätzliche Umsätze sichern kann.
Ermessensspielräume
Wie man sieht, basiert die 2008er Version deutlicher als je zuvor auf der individuellen unternehmerischen und strategischen Entscheidung. Wohl deshalb baut die neue Version konsequenterweise verschiedentlich Formulierungen ein, die sprachlich auf einen Begriff zulaufen, ohne ihn zu nennen. Es ist dies der Begriff des Ermessenspielraumes. Ein Beispiel hierfür ist der geänderte Punkt 8.3 (Lenkung fehlerhafter Produkte). Legte die 2000er Version hier noch apodiktisch fest, was die Organisation tun muss, sagt die 2008er Nachfolgerin:
„Wo praktikabel muss die Organisation in einer oder mehreren der folgenden Weisen mit fehlerhaften Produkten umgehen“
Die Entscheidung über die Praktikabilität liegt also im Ermessensspielraum des Unternehmens – bzw. eben des Unternehmers oder der Entscheider.
Parallelen zur Finanzkrise?
Soviel zur Novellierung der ISO 9001:2008. Die Auswahl der hier genannten Detailveränderungen mag subjektiv erscheinen. Das ist sie sicher auch. Dennoch sollte gelten dürfen: Jede Regel kann ohnehin immer nur so gut sein, wie sie im Einzelfall angewendet wird. Es erscheint vielleicht gerade deshalb angebracht, die Bedeutung der hier aufgeführten grundsätzlichen Neuerungen noch einmal im Lichte der Vorkommnisse in der Finanzwirtschaft zu beleuchten. Es gibt hier durchaus Parallelen. Denn ebenso wie im Bereich der heute gerne so genannten Realwirtschaft gibt es ja in der Finanzwirtschaft Institutionen, die einmal dafür installiert worden waren, die Arbeit der Banken zu überprüfen. Diese Ratingagenturen sind vom Prinzip her durchaus vergleichbar mit den zur Zertifizierung von Managementsystemen akkreditierten Organisationen. Allerdings gibt es hier durchaus einen großen und wesentlichen Unterschied. Zertifizierungs-Organisationen wie zum Beispiel der TÜV Hessen prüfen unabhängig, objektiv und neutral. Das ist ihre Aufgabe. Und nicht mehr als das.
Die Arbeit und die Arbeitsergebnisse der Rating-Agenturen wurden über die Jahre hinweg immer mehr zum Teil der Wertschöpfungskette der Banken. Die Bewertung von Kreditportfolios und die dazu eingesetzten Instrumente wurden fürs operative Finanzgeschäft eingesetzt. Man muss kein Systemphilosoph sein, um zu wissen, dass man einerseits nicht prüfen kann, was man selbst mitgestaltet. Und dass man umgekehrt alles prüfen kann, wenn man den klaren und unabhängigen Blick von außen behält.
Wohl auch deshalb hat die Europäische Kommission gerade kürzlich zwei Konsultationspapiere zu den Kreditratingagenturen veröffentlicht. Das erste Dokument betrifft die Bedingungen für die Zulassung, die Tätigkeit und die Überwachung von Kreditratingagenturen. Im zweiten Dokument werden strategische Lösungen vorgeschlagen, um dem entgegen zu wirken, was als „übermäßiges Vertrauen“ in die Stellungnahmen der Ratingagenturen in den EU-Rechtsvorschriften verankert ist.
Der Begriff des „übermäßigen Vertrauens“ ist eben der Tatsache geschuldet, dass Ratings durch Dritte, die zum integralen Teil des unternehmerischen Prozesses werden, naturgemäß wenig hilfreich sind. Eben weil sie nicht mehr neutral sein können.
Fazit:
Indem sie den Unternehmer zur Selbstverpflichtung auffordert, ihm Ermessensspielräume gibt und ihm auch sonst die nötigen Instrumente zur qualitätshaltigen Umsetzung seiner Strategien in die Hand gibt, verlagert die ISO 9001:2008 das Qualitätsmanagement auch inhaltlich dorthin, wo es hingehört: In die oberste Leitung der Unternehmen. Die Art und Weise, wie sie durchaus essentielle Veränderungen in Anmerkungen unterbringt, darf als Spiegel dessen gesehen werden was nottut: Genauer hinsehen! Die Unternehmen sind für die Qualität selbst verantwortlich. Dass die Ergebnisse der unternehmerischen Arbeit dennoch objektiv und neutral geprüft und zertifiziert werden müssen, beweist nicht zuletzt die Bankenkrise. Um es einfach zu sagen: Liberalisierung ist gut, weil sie den Unternehmen und Wirtschaftsstandorten hilft. Aber neutral und objektiv geprüft werden muss immer. Das geht nicht von innen. Und deshalb sind unabhängige und nicht von Ergebnisweisung abhängige Institutionen wie der TÜV Hessen wichtiger denn je. Auch und gerade in Zukunft.
Ottmar Walter
Leiter Management-Systeme
TÜV Hessen, Darmstadt
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