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Die hochautomatisierte und digitalisierte Produktion ist für uns eine wichtige Strategie um im internationalen Wettbewerb erfolgreich sein zu können“, sagt Oliver Widmer, Leiter Production Technologie bei Ypsomed. Der Medizintechnikhersteller produziert den Großteil seiner Produkte in der Schweiz – zum Teil mit Spritzgießmaschinen. „Die Digitalisierung bietet hier umfassende Möglichkeiten, wichtige Anforderungen und valide Prozesse effizient sicherzustellen“, betont Widmer.
Dazu gehört für ihn, dass ihm aktuelle, unveränderliche und prozessrelevante Informationen zu Vorgaben und Resultaten vorliegen und dass er diese schnell und standortunabhängig bei Problemen oder Audits verfügbar hat. „Außerdem sorgt die Digitalisierung für Transparenz und schnelle, einfache Eingrenzung von möglichen Fehlern – und dadurch für eine höhere Verfügbarkeit der Maschinen sowie reduzierten Ausschuss und Maschinenstillstand, die in einer höheren Effizienz resultieren“, so Widmer weiter. „Hinzu kommt die Rückverfolgbarkeit von einzelnen Komponenten sowie fertiggestellten Produkten.“
Die MDR hat weiteren Druck erzeugt
Ypsomed hat schon vor Jahren begonnen, seine Produktion zu digitalisieren. Die EU-Medizinprodukteverordnung (MDR), die von Herstellern beispielsweise eine lückenlose Rückverfolgbarkeit der Produkte fordert, erzeugte daher bei den Schweizern keinen Stress. Christian Krampfl, Global Application Owner Medical beim Münchner Spritzgießmaschinenbauer Kraussmaffei, beobachtet gleichwohl, dass die MDR den Druck zur Digitalisierung in der Branche nochmals erhöht hat: „Für eine MDR-konforme Dokumentation sind digitale Assistenzsysteme in der Spritzgießmaschine gefragt, die alle relevanten Daten auswerten.“
Systeme überwachen
gesamte Produktionszellen
Diese digitalen Helfer sind laut Krampfl längst nicht mehr auf die Spritzgießmaschine beschränkt, sondern überwachen und regeln zum Teil gesamte vernetzte Produktionszellen einschließlich integrierter Werkzeugtemperierungen, Heißkanalsysteme oder Automationslösungen. Bei aller Komplexität sei dabei immer eine einfache Bedienung gefordert.
„Die Anforderungen an die zu fertigenden Bauteile werden in der Medizintechnik immer komplexer. Gleichzeitig nimmt der Mangel an Fachkräften zu. Diese beiden Gründe führen dazu, dass der Druck zur Digitalisierung steigt“, bestätigt Dr. Martin Juhrisch, Geschäftsführer des Dresdener Software-Hauses Symate, das eine Plattform für Datensammlung und -analyse mittels KI in der Produktion entwickelt hat. Diese ist auch bei Kunststoffverarbeitern im Einsatz.
„Durch die automatisierte Hintergrundauswertung von Daten aus Fertigungsprozessketten lassen sich selbst komplexere Prozesse von weniger qualifizierten oder einer geringen Anzahl an Fachkräften sicher beherrschen, überwachen und optimieren“, so Juhrisch weiter. Digitale Assistenzsysteme, die auf den Maschinen installiert sind, haben für ihn „immer nur einen eingeschränkten Blick auf die Maschinendaten“, sind somit Insellösungen. „Doch aus unserer Sicht ist der Blick auf die gesamte Zelle notwendig, die unter Umständen auch Roboter, Temperiergeräte, Heißkanalsysteme, Trockner und mehr umfasst.“
Diesen Weg haben die Spritzgießmaschinenbauer mittlerweile ebenfalls eingeschlagen: „Einflussgrößen von Peripheriegeräten wie Materialtrocknern, Heißkanalregelgeräten oder Automation auf den Spritzgießprozess werden immer mehr mit unserem Assistenzsystem APC Plus erfasst“, sagt Kraussmaffei-Experte Krampfl. Er plädiert auch dafür, die Daten der Werkzeugtemperierung hinsichtlich Temperatur, Druck und Durchfluss stärker zu berücksichtigen – „aus unserer Sicht eine Stellgröße, welcher mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte“. Kraussmaffei arbeitet hier mit Enesty/Jurke zusammen, deren Temperiersystem Orca er in seine neueste Steuerungsgeneration integrieren kann.
Drei verschiedene Arten
von Assistenzsystemen
Auch für Kraussmaffei-Wettbewerber Engel sind digitale Assistenzsysteme in der Spritzgießmaschine, welche die gesamte Produktionszelle einschließlich Peripherie und Automation abdecken, das A und O, damit Kunststoffverarbeiter in der Medizintechnik ihre Produktionsprozesse im Griff haben.
Christoph Lhota, Leiter der Business Unit Medical von Engel, unterscheidet dabei drei Arten von Assistenzsystemen: Solche, die zur Vermeidung von menschlichen Fehlern beitragen. Solche, die bei der Prozessregelung unterstützen. Und schließlich solche, die helfen, wenn Fehler bereits aufgetaucht sind. „Vor allem Tools zur Prozessregelung sind derzeit in der Medizintechnik gefragt“, berichtet Lhota. „Hier geht es darum, trotz veränderter Bedingungen die Produktionsprozesse konstant zu halten.“
So passt die Engel-Software IQ Weight Control den Umschaltpunkt und den Nachdruck an, falls sich das Rohmaterial oder die Umgebungsbedingungen verändern. IQ Flow Control sorgt für konstante Werkzeug-Temperierverhältnisse, indem es die Temperatur in den einzelnen Kühlkreisen auf einen Sollwert regelt. So ist gewährleistet, dass die Temperaturdifferenzen konstant bleiben, auch wenn sich die Verhältnisse im Werkzeug im Lauf der Zeit verändern, weil sich etwa sehr feine Temperierwasserkanäle zusetzen. Dies kann laut Lhota bei der Pipetten-Fertigung der Fall sein. Die Temperiergeräte hat Engel mit HB-Therm entwickelt.
Auch sind solche Prozessregelsysteme laut Lhota hilfreich, um die Vorgaben der einmal validierten Spritzgießprozesse sauber einhalten zu können. Noch einen Schritt weiter geht Engel nun mit dem neuen Maschinensteuerungs-Feature „Parameter-Limits“: Es stellt sicher, dass die für den jeweiligen Spritzgießprozess voreingestellten Sollwerte zu jeder Zeit innerhalb eines definierten oder validierten Prozessfensters liegen und damit auch die Qualitätskriterien des Bauteils die spezifizierten Grenzen nicht verlassen. Für bis zu 150 individuell auswählbare numerische Prozessparameter lässt sich ein Prozessfenster festlegen, sodass der Maschinenbediener deren Sollwerte nicht verändern kann. „Dieses Feature haben wir gezielt für die Medizintechnik entwickelt“, so Lhota.
„Assistenzsysteme helfen zukünftig, die Einflüsse verschiedener Parameter besser zu erkennen und gegebenenfalls auftretenden Abweichungen mit Vorschlägen zu begegnen“, ist sich auch Ypsomed-Experte Widmer sicher. Mehr noch: „Die intelligente, sich selbst regelnde Spritzgießmaschine muss nicht nur für die Medizintechnik, sondern für die gesamte Kunststoffindustrie das Ziel sein. Damit wird nicht nur die Produktivität gesteigert, sondern auch eine ressourcenschonende Herstellung ermöglicht. Wenn wenig bis kein Ausschuss generiert wird, schont das die Umwelt durch den reduzierten Einsatz von Energie und Material doppelt.“ Das bestätigt auch Symate-Geschäftsführer Juhrisch: „In der Medizintechnik sehen wir das Potenzial selbst regelnder Spritzgießmaschinen vor allem in der sehr hohen Reproduzierbarkeit in Bezug auf die Teilequalität. Durch die Selbstregelung könnte man im Bereich der Gesamtanlageneffektivität (OEE) und der Materialeffizienz zusätzliche Effizienzsteigerungen erzielen und den Auswirkungen des Fachkräftemangels so zusätzlich entgegenwirken.“ Dabei sei das reine Sammeln von Daten im Sinne einer Dokumentation wenig zielführend, so Juhrisch, denn die Daten würden erst dann wirklich nutzbar, wenn sie ein ‚Gesicht‘ erhielten, das heißt analysiert, ausgewertet und in Bezug auf prozessübergreifende Wechselwirkungen interpretiert würden – zum Beispiel mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) und Machine Learning (ML).
KI hilft, alle Parameter
besser verstehen
„KI und ML bieten die Chance, verschiedene Kombinationen von Parametern und deren Einfluss bei Veränderung auf das Spritzgussteil selbstständig zu verstehen“, sagt auch Ypsomed-Manager Widmer. „Das ermöglicht, die Anlage bei Maßänderungen oder optischen Auffälligkeiten innerhalb der validierten Toleranzen so zu steuern, dass die Teile wieder toleranzmittig hergestellt werden.“
Aktuell laufen nach seinen Aussagen bei Ypsomed interne Projekte zur Umsetzung von KI und maschinellem Lernen im Spritzguss. „Doch neben den technischen Anforderungen sehen wir auch Herausforderungen bei der Validierung solcher adaptiver Prozesse“, so Widmer weiter. Generell sieht er, dass durch eine exakte Validierung die Wertschöpfung in der Produktion gesteigert wird: „Die Investition in die Qualifizierung beziehungsweise Validierung zahlt sich in höherer Produktivität aus. Die geforderten Anforderungen werden daher auch in Zukunft weiterhin klar steigen.“
„Durch die strenger werdenden rechtlichen Grundlagen und die infolge der zunehmenden Digitalisierung größer werdenden Möglichkeiten, nimmt der Umfang der Validierung eher zu als ab“, betont auch Gerald Plöchl, Project Engineer im Bereich Medical beim Spritzgießmaschinenbauer Wittmann Battenfeld. „Das bedeutet nicht zwingend, dass der dahinterstehende Aufwand tatsächlich steigt. Zukünftige Anwendungen werden wie in anderen Bereichen etwa durch KI zunehmend selbstständiger arbeiten und somit entlastend auf das Personal wirken.“
KI könnte Hindernis für
die Prozessvalidierung sein
Doch wie lassen sich intelligente Assistenzsysteme, die KI oder ML nutzen, in die Validierungsstrategie einbinden? „Solche Lösungen werden von den Kunden oft als Blackbox eingestuft, doch diese Blackbox ist für die Validierungsstrategie nicht relevant“, argumentiert Engel-Experte Lhota. „Der Spritzgießer muss im Grunde nur die Eingangsgrößen und die Stellgrößen des Algorithmus kennen. IQ Weight Control zum Beispiel greift auf die Stellgrößen Nachdruckhöhe und Umschaltzeitpunkt zu. Dafür muss der Kunde die untere und obere Grenze ermitteln – und mehr muss er nicht wissen.“
Allerdings, so gibt auch Lhota zu: „Je mächtiger die KI-basierten Systeme in der Spritzgießmaschine werden und in die Prozesse eingreifen, desto eher werden sie zur Herausforderung für die Validierung.“
Ypsomed AG
Weissensteinstrasse 26
4503 Solothurn/Schweiz
www.ypsomed.com
Kraussmaffei Group GmbH
Krauss-Maffei-Strasse 2
80997 München
Engel Austria GmbH
Ludwig-Engel-Straße 1
4311 Schwertberg/Österreich
www.engelglobal.com
Symate GmbH
Georg-Treu-Platz 3
01067 Dresden
www.symate.de
Wittmann Battenfeld GmbH
Wiener Neustädter Straße 81
2542 Kottingbrunn/Österreich
www.wittmann-group.com
Arburg GmbH + Co KG
Arthur-Hehl-Straße
72290 Loßburg
www.arburg.com
Bild: Arburg
Spritzgießsimulation in der Maschine
Damit Erkenntnisse aus der Simulation von Spritzgießprozessen an der Maschine nicht ungenutzt bleiben, haben Arburg und Engel Lösungen entwickelt. Engels Lösung Sim Link lässt sich mit Simulationsprogrammen von Autodesk (Moldflow) und Simcon (Cadmould) nutzen. Auch Arburg arbeitet mit Simcon zusammen. Das Ziel sind optimierte Füllsimulationen: Dabei ist über Varimos, ein Plug-in zur Variantenanalyse für die Simulationssoftware Cadmould, und den AXW Control Fillassist von Arburg die Simulation und die Gestica-Steuerung vernetzt und integriert. Statt Variante für Variante manuell einzurichten, bekommt Varimos mitgeteilt, welche Variablen in welchen Grenzen variiert werden sollen, etwa Wandstärken, Anschnittpositionen oder Einspritzparameter. Basierend darauf erstellt Varimos automatisch geeignete Simulationsvarianten, spielt sie mit hoher Geschwindigkeit gleichzeitig durch und extrahiert Erkenntnisse über die Simulationen hinweg.
Durch die parallele Betrachtung mehrerer Varianten kann sich die Auslegung von Formteil und Werkzeug von Wochen auf wenige Tage verkürzen. Ein weiteres Resultat ist ein kompletter Simulationsdatensatz, der unter anderem einen ersten Ausgangspunkt für die Maschinenparameter beinhaltet. Die Ergebnisse lassen sich digitalisiert und damit papierlos an die Maschine übertragen und für die Werkzeugabmusterung nutzen.
Webhinweis
Ein Interview mit Oliver Widmer, Leiter Production Technologie bei Ypsomed, zur Rolle von digitalen Assistenzsystemen auf Spritzgießmaschinen des Medizintechnikherstellers und von künstlicher Intelligenz lesen Sie bei unserer Schwesterzeitschrift Medizin&Technik. Widmer sagt darin: „Unser Ziel ist die intelligente Spritzgießmaschine.“