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Viele Chancen und noch mehr Arbeit

Roundtable zur Digitalisierung in der Messtechnik
Viele Chancen und noch mehr Arbeit

Auch in der Messtechnik ist die Digitalisierung ein großes Thema. Doch noch sind nicht alle Voraussetzungen gegeben – wie zum Beispiel Standards. Die Redaktion von Quality Engineering hat mit Experten von Hexagon, Wenzel, Werth und Zeiss über neue Möglichkeiten und Herausforderungen gesprochen.

Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf die Messtechnik?

Martin: Im Prinzip geht es darum, sämtliche Informationen, die wir durchs Messen gewinnen, in die Fertigung zu transportieren. Letztendlich bewegt sich die Koordinatenmesstechnik von einer Single- oder Stand-alone-Disziplin hin zu einem Fertigungs-Tool. Wir werden also immer näher an die Fertigungsprozesse gekoppelt mit unseren Messergebnissen. Daneben sehe ich aber auch die Digitalisierung bei den Maschinen selbst. Das geht los bei normgerechten Auswerte- und Filteralgorithmen, die wir implementieren müssen. Das hat massiv zugenommen. Und die Koordinatenmesssysteme werden selbst als Digital Twins behandelt. Das ermöglicht es zum Beispiel, Simulationen durchzuführen.

Ferger: Die Frage ist, was man als Messtechniker unter Digitalisierung versteht, denn der Begriff ist leider nicht eindeutig definiert. Zum einen kann es der Wunsch nach digitalen Information über die geometrischen Produkteigenschaften sein. Das Gerät ermittelt Messwerte, und was der Anwender dann im Falle von Offline-Lösungen mit den Informationen macht, wissen wir zumeist nicht. Wenn wir Closed-Loop-Systeme liefern, erhält der Fertigungsprozess Informationen vom Messgerät und regelt zum Beispiel darüber die geometrischen Produkteigenschaften der Werkstücke und oder Werkzeuge. Das Koordinatenmessgerät kann ebenfalls Feedback vom Prozess bekommen. Beispielsweise wird ein schlecht gemessenes Teil nochmals zur Messung vorgeschlagen, wenn es verschmutzt war. Solche Umsetzungen sind bereits Realität. Zum anderen kann es bedeuten, dass man die digitale Kopie des Werkstücks benötigt. Diese Anforderung lässt sich heute sehr leicht mit der Computertomografie umsetzen.

Wenzel-Schinzer: Unsere Kunden digitalisieren und fordern damit bei uns auch die Digitalisierung ein. Die Kunden sagen zum Beispiel: „Wir hätten Euch gerne näher an der Fertigung. Wir wollen eine schnellere Rückkopplung. Es soll alles etwas schneller und genauer gehen und mit schönen Bildern versehen werden.“ Im Grunde folgen wir unseren Kunden, was die Digitalisierung angeht, entwickeln aber natürlich auch von uns aus eigene Ansätze und Produkte.

Fröwis: Letztlich geht es ja darum, dass wir stärker mit dem Ohr an den Bedürfnissen unserer Kunden sind. Und dass wir auch Lösungen anbieten, ohne danach gefragt zu werden. Denn unsere Kunden haben natürlich nicht so tiefe Erfahrungen bei Koordinatenmesssystemen. Wir müssen also auch selbst zeigen, was mit Digitalisierung möglich ist.

Die Messtechnik wandert in die Fertigung – ist das der große Treiber?

Ferger: Wir nehmen wahrscheinlich alle den Trend wahr, dass Messtechnik immer mehr atline oder inline betrieben wird. Der klassische Messraum verliert an Bedeutung. Wir sprechen heute oftmals von fertigungsintegrierten Zellen mit temperaturkompensierten Messgeräten, mit Feedback an Leitrechner und ERP-Systeme, mit Teilezuführung. Das wird getrieben von steigender Produktkomplexität, Produkthaftungsthemen und natürlich von mittlerweile verfügbarer Sensorik, die in Fertigungsgeschwindigkeit Messprozesse abbilden kann.

Martin: Die klassische Koordinatenmesstechnik wird immer mehr zugunsten der fertigungsnahen oder fertigungsintegrierten Messtechnik abgelöst. Und die Koordinatenmessgeräte werden hauptsächlich für die Rückführung verwendet – im Prinzip als Referenzmaschine. Wir werden häufig gefragt: „Eure Sensoren sind gut. Können wir die nicht direkt integrieren, am besten in der Werkzeugmaschine?“

Wenzel-Schinzer: Wobei ich natürlich den Nachteil habe, dass ich dann mit der gleichen Maschine messe, mit der ich fertige.

Martin: Dazu haben wir ja mittlerweile auch Industriearbeitskreise in Deutschland, an denen ich auch teilnehme. Es gibt auch bei uns im Konzern dafür entsprechende Lösungen.

Ferger: Am Ende des Tages brauchen aber viele Kunden trotzdem genau diese doppelte Absicherung. Sie benötigen eine zweite Maschine, die messmittelfähige Ergebnisse produziert. Das Messen in der Bearbeitungsmaschine ist der erste Schuss, damit ich eine Serie „nicht vergeige“. Aber für die Qualitätssicherung wird man weiterhin auf spezielle Messgeräte angewiesen sein, denn wer möchte schon seine Eingriffsgrenzen unnötig hoch setzen, um die Unsicherheiten der Fertigungsmaschine mit integrierter Messtechnik auszugleichen.

Wie sieht es denn mit dem Closed Loop aus? Der ist zur Zeit ein angesagtes Thema.

Martin: Jeder Hersteller kann Referenzkunden präsentieren. Aber es gibt noch keine Durchgängigkeit im Markt. Wir können noch nicht sagen, dass jeder Kunde einen Closed Loop umgesetzt hat.

Fröwis: Jede Anwendung differenziert sehr stark. Man kann kann keine Lösung 1:1 kopieren. Denn bei jedem Kunden gibt es andere Gegebenheiten.

Martin: Es hängt sehr viel davon ab, welche Schnittstellen und welche Datenformate der jeweilige Kunde zur Verfügung stellt. Das ist entscheidend dafür, wie sich Daten dann individuell in die Systeme integrieren lassen.

Wenzel-Schinzer: Vor 20 Jahren hat man akzeptiert, dass eine Lösung individuell für jeden Kunden erstellt wird. Heute geht man davon aus, dass es out of the Box bereitgestellt wird. Das heißt, eine Lösung ist zwar nicht kopierbar, aber die Mechanismen müssen so gut sein, dass sie quasi baukastenmäßig übertragbar ist.

Ferger: Es ist ein Kennzeichen der Digitalisierung, dass man standardisiert vorgeht.

Aber dem ist nicht so, oder?

Martin: Es gibt eine Schnittstellenproblematik. Mit Industrie 4.0 haben sich sehr viele Industrien darauf spezialisiert, ihre eigenen Schnittstellen zu entwickeln. Die einen arbeiten mit Siemens NX, die anderen mit Bosch und so weiter. Von uns wird erwartet, dass wir all die Schnittstellen unterstützen. Das ist eine immense Herausforderung. Wir werden in jeder großen Factory mit unterschiedlichsten Anforderungen konfrontiert.

Ferger: Wenn man sich anschaut, wohin sich das entwickelt – also Schnittstelle A, Schnittstelle B, Konstrukteur C, Konstrukteur Y – dann ist noch sehr viel zu tun, um einheitliche Schnittstellen zu schaffen. Vielleicht ist hier einmal PMI eine Lösungsmöglichkeit.

Gut, dann sprechen wir doch mal über PMI – also Product and Manufacturing Information.

Fröwis: Die größte Herausforderung dabei ist: Was macht der Konstrukteur?

Was meinen Sie damit?

Fröwis: Der Konstrukteur konstruiert im CAD-Programm und kann dabei Kombinationen bei der Tolerierung festlegen, die möglicherweise messtechnisch nicht umsetzbar sind.

Ferger: Fangen wir mal von vorne an: PMI entsteht ja individuell beim Konstrukteur. Die Modelle enthalten dann zusätzlich zur Geometriebeschreibung der CAD-Elemente auch die festgelegten Bemaßungen. Zukünftig soll die Interpretation der Aufgabenstellung und die Wahl geeigneter Messstrategien von den PMI übernommen werden. Bisher fehlen jedoch Angaben zur Umsetzung der Spezifikationen aus den GPS-Normen – also Geometrical Product Specification – und entsprechend ausgebildete Konstrukteure. Daher existieren noch kaum CAD-Modelle mit vollständigen PMI-Daten, und das Messen mit PMI-Unterstützung ist in der Praxis noch wenig verbreitet.

Martin: In der ISO TC213 gibt es momentan einen ganz starken Fokus auf das Design, also auf den Konstrukteur. Wir haben daher in der DIN beschlossen, eine sogenannte Verifikationsarbeitsgruppe zu gründen , die sich mit den Themen Verifikationen auf Basis der Spezifikationen beschäftigt. Wir werden aber sehr lange brauchen, bis diese in den ISO-Standards abgebildet sind.

Es geht also darum, dass der Konstrukteur eigentlich schon Messtechnikkenntnisse mitbringen muss? Ist das das Problem?

Ferger: Er sollte denken wie ein Messtechniker.

Martin: Was glauben sie, wie häufig ich diese Diskussion gerade auch mit Konstruktionsexperten habe? Ich sage dann: „Ihr müsst doch bestimmte metrologische Zusammenhänge mitberücksichtigen in der Konstruktion.“ Und dann kommt die klare Aussage: „Nein, der Konstrukteur hat nur die Aufgabe, die Funktion des Bauteils oder der Baugruppe mit Spezifikationen zu beschreiben.“

Aber gibt es denn keine Chance, dass die Konstrukteure das auch beherrschen könnten. Müsste es nicht das Ziel sein, genau das zu vereinfachen?

Ferger: Man wird natürlich immer von unterschiedlichen Lagern beeinflusst. Die großen Unternehmen haben oftmals entsprechende Ressourcen und das Ziel: Wenn man vorne das Thema ordentlich durchdacht hat, kann man hinten quasi automatisch nichts mehr falsch machen. Aber dazu müssten auch alle kleineren Firmen wie zum Beispiel Zulieferer erst einmal ihre Konstrukteure entsprechend ausgebildet haben, damit diese auch verstehen, was sie tun.

Warum ist dann PMI so ein großes Thema?

Martin: PMI verspricht eine generelle Durchgängigkeit – vom Design über die Fertigung bis zur Verifikation.

Wenzel-Schinzer: PMI passt für einige Großkunden sehr gut. Aber es wird noch eine lange Zeit nicht für die Breite der Unternehmen geeignet sein, weil vorne die Prüfung fehlt. Und wenn die vorne fehlt, fehlt`s hinten auch.

Fröwis: PMI verspricht ein globaler Standard zu werden. Ich bin allerdings der Meinung, dass wir bei den CAD-Systemen zu wenig Prüfung haben. Der Konstrukteur hat kaum Grenzen. Von den Informationen, die dann bei uns ankommen, können wir einige nicht nutzen, weil diese für die Messung untauglich sind. Das ist ein Problem.

Ferger: Das eigentliche Problem ist: Wir müssen daran arbeiten, dass Messprogramme schneller erstellt werden können.

Aber wie? Gibt es dafür Ansätze?

Ferger: Es gibt ja bereits viele Ansätze – andere als PMI. Fast jeder Hersteller von Messgeräten bietet Offline-Programmiermodule an. Da lädt man die 3D-CAD-Daten hinein und programmiert seine Aufgaben, ohne sich überhaupt mit PMI beschäftigen zu müssen.

Martin: Es gibt ja auch das OCR-Scannen, bei dem aus den Zeichnungen Messprogramme generiert werden.

Fröwis: Es gibt so viele Lösungen. Die ganzen Karosserieleute beispielsweise haben ihr eigenen Lösungen.

Ein weiteres Digitalisierungsthema ist das VCMM – das virtuelle Koordinatenmessgerät. Was hat es damit auf sich?

Martin: Man simuliert dabei die verschiedenen Einflussgrößen auf das Messergebnis. Dann erhält man eine Aussage zur Messunsicherheit. Das wurde ursprünglich schon vor 20 Jahren entwickelt. Doch die Nachfrage im Markt stagniert, weil es sehr lange gedauert hat, um eine Simulation laufen zu lassen. Wir bei Hexagon haben vor drei Jahren das Projekt gemeinsam mit der PTB, unseren Kollegen von Zeiss und den Kalibrierlaboren Eumetron und Feinmess neu gestartet. Wir haben dabei die Schwächen des ersten Modells berücksichtigt und das Scanning – was heutzutage eine gängige Technologie ist – miteingebaut. Wir sind optimistisch, dass das Projekt auch weitergeht.

Fröwis: Das VCMM kann die Messunsicherheit jetzt auch für Scanning-Messungen abschätzen. Leider ist der Aufwand nach wie vor hoch, so dass die Bedeutung der Messung diesen Aufwand rechtfertigen muss.

Martin: Das VCMM hilft bei einer Abschätzung der Messunsicherheit. Nachteil ist, dass man nach wie vor eine relativ lange Simulationszeit braucht – trotz aller IT, die es heutzutage gibt.

Ferger: Leider behandelt das Thema nur den taktilen Sensor, sprich den konventionellen 3D-Taster. Für alle anderen Sensoren ist das Experiment nach wie vor noch nicht zu ersetzen. Irgendwo muss man ja plausibilisieren. Wir bieten das VCMM für die taktile Messung an, aber die Nachfrage ist vernachlässigbar.

Martin: Wir werden es auf der Control noch mal vorstellen. Den Bedarf sehen wir hauptsächlich bei Kalibrierlaboren.

Vorhin wurde schon der digitale Zwilling erwähnt. Was genau ist das und welchen Nutzen hat er in der Qualitätssicherung?

Martin: Der Digital Twin ist die möglichst vollständige Abbildung eines realen Bauteils oder Geräts und dessen Enstehungsgeschichte in der digitalen Welt. Man braucht ihn, um Simulationen durchführen zu können. Denn mit einem realem Bauteil kann man nichts simulieren oder rekonstruieren.

Ferger: Im Grunde ist es ein zeitlich neben dem Bauteil entstehender, anwachsender Datentopf. Er beginnt vorne mit der CAD-Zeichnung, dort wird er quasi geboren. Das Bauteil wird produziert, gemessen und irgendwo eingesetzt. Dann geht es irgendwann kaputt, wird repariert und so weiter. Im Prinzip weiß man zum Beispiel in 20 Jahren alles über das Produkt – wie oft es repariert wurde, wie oft es eingesetzt wurde, was mit ihm passiert ist. Soviel zur Theorie.

Wenzel-Schinzer: Der digitale Twin merkt sich eben alles. Und wenn alles schön standardisiert ist, erreicht man eine schnellere Übertragbarkeit. Die ist theoretisch jetzt schon möglich. In jeder Stufe entsteht ein digitales Datenformat. Aber im Moment lässt sich das noch nicht weiter verarbeiten, es ist noch nicht austauschbar. Das ist aber die grundlegende Idee, so würde auch der Closed Loop einfacher.

Martin: Da sind wir wieder bei der Standardisierung von Datenformaten, die zur Zeit noch nicht vorhanden ist.

Fröwis: Messtechnik war schon immer die Schnittstelle zwischen dem realen Teil und der CAD. Jetzt sollen diese Informationen eben stärker genutzt werden. Man will sich zum Beispiel den ganzen Aufwand mit der Papierzeichnung sparen. Doch dazu brauchen wir die Standardisierung, die heute definitiv nicht gegeben ist. ■

Vielen Dank für die Diskussion.■


Die Diskussionsteilnehmer

  • André Martin, Chief Metrology Officer, Hexagon (Halle 5, Stand 5200)
  • Dr. Heiko Wenzel Schinzer, Geschäftsführer/Chief Digital Officer, Wenzel Group (Halle 5, Stand 5001)
  • Detlef Ferger, Vertriebsleiter/Prokurist
    Werth (Halle 7, Stand 7101)
  • Roland Fröwis, Leiter Applications Management Systems, Unternehmensbereich Industrial Metrology, Zeiss (Halle 4, Stand 4400)
  • Sabine Koll und Markus Strehlitz,
    Redaktion Quality Engineering
    (Halle 6, Stand 6402)

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