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Interview mit Benedikt Sommerhoff von der DGQ

Integriertes Managementsystem
DGQ-Experte: „Es fehlen die wichtigsten Fundamente eines Managementsystems“

DGQ-Experte: „Es fehlen die wichtigsten Fundamente eines Managementsystems“
Benedikt Sommerhoff sieht es durchaus als Herausforderung, ein funktionierendes Gesamtsystem zu bauen. Doch es lohne sich, diese zu bewältigen. Bild: DGQ
Integrierte Managementsysteme decken in der Praxis nicht alle Bereiche ab, die eigentlich relevant sind, kritisiert Benedikt Sommerhoff von der DGQ. Er erklärt, wo die blinden Flecken liegen und wie die Gestaltung der Systeme verbessert werden könnte.

» Markus Strehlitz

Herr Sommerhoff, die Idee eines integrierten Managementsystems ist es, mehrere Bereiche wie Qualitätsmanagement, Umweltmanagement und Arbeitssicherheit unter einen Hut zu bringen. Sie sehen bei diesem Thema aber noch blinde Flecken. Was meinen Sie damit?

Benedikt Sommerhoff: Es geht mir dabei um die Frage der Systemabgrenzung. Also: Was nehme ich mit in dieses System, was lasse ich außen vor? Was zählt zum Qualitätsmanagementsystem oder zum Arbeitssicherheit-Managementsystem hinzu und was nicht? Und meine Vermutung ist, dass diese Abgrenzung relativ willkürlich und fachlich geprägt ist. Es kann passieren, dass relevante Teile nicht miteinbezogen werden. Das sind die blinden Flecken, die ich meine.

Welche Felder sind das konkret?

Sommerhoff: Das sind zum Beispiel die Bereiche Governance, Legal Compliance und Finance – mit ihren durch die Rechtsform induzierten Regeln und Besonderheiten. Dort regelt die Leitung, wie sie ihr Unternehmen steuert. Es macht einen Unterschied, ob ein Unternehmen eine AG oder eine GmbH ist, weil es dafür verschiedene gesetzliche Vorgaben gibt. Zum Beispiel: Wie und worüber muss berichtet werden? In welchen Abständen muss berichtet werden? Welche Rechte und Pflichten haben Gremien wie eine Gesellschafterversammlung oder eine Aktionärsversammlung? Das sind hoch relevante Spielregeln für ein Managementsystem. Bedeutend und handlungsleitend im Unternehmen sind auch Ziel- und Inzentivierungs- also Belohnungssysteme. Ich habe es aber noch nie erlebt, dass Qualitätsmanager dies vertieft beachtet und weitgehend berücksichtigt haben, wenn sie ein Managementsystem gestaltet haben.

Das heißt, ein integriertes Managementsystem deckt in der Regel gar nicht alle Bereiche ab, die eigentlich relevant sind.

Sommerhoff: Genau. Und der Begriff Integriertes Managementsystem macht es besonders problematisch. Denn so entsteht der Eindruck, dass in diesem System alles enthalten ist, was drin sein müsste. Dieser Irrglaube wird sozusagen sprachlich zementiert. Man glaubt, man habe alles adressiert. In Wirklichkeit aber fehlen wichtige, sogar die wichtigsten Fundamente eines Managementsystems.

Warum gibt es denn diese blinden Flecken? Warum werden die Bereiche, die Sie angesprochen haben, nicht in das System integriert?

Sommerhoff: Grundsätzlich gibt es ja keinen Grund, warum zu den bisherigen Themen nicht noch weitere in ein integriertes Managementsystem einbezogen werden sollten. Aber viele Qualitätsmanager, mit denen ich darüber spreche, sagen mir: „An Bereiche wie zum Beispiel Finance kommen wir nicht ran. Das sind Chief Financial Officers, die diese Systeme gestalten.“ Leitungs- und weitere Führungskräfte bauen die Zielsysteme und legen die grundlegende Kommunikation sowie Hierarchien fest. Sie sind also für die Gestaltung der Aufbauorganisation und der wichtigsten Kommunikations- und Berichtswege verantwortlich. All das ist managementsystemprägend.

Wie müsste die Gestaltung der Managementsysteme stattdessen organisiert sein?

Sommerhoff: Wenn man ein integriertes Managementsystem aufbauen möchte, das diesen Namen wirklich verdient, geht das nur miteinander – im Kollektiv aller Leitungs-, Ziel- und Fachverantwortlichen. Es funktioniert meines Erachtens nicht, dass einer oder eine allein dafür verantwortlich ist.

Was heißt das konkret?

Sommerhoff: Die unterschiedlichen Gewerke dieses Systemgebäudes – wie etwa Qualitätsmanagement, Umweltmanagement und Arbeitssicherheit aber eben auch Governance, Finance, Controlling, Compliance, Personal – müssen ihre jeweilige Arbeit am Managementsystem im Kollektiv synchronisieren und organisieren. Man muss ein gemeinsames Verständnis von Systementwicklung finden. Und alle Beteiligten sollten sich darin einig sein, dass es viel besser ist, gemeinsam einen umfassenden Bauplan zu erstellen und Managementsystementwicklung, die ja letztlich Organisationsentwicklung ist, konzertiert, widerspruchsfrei und zielführend zu betreiben. Alle Erkenntnisse müssen zusammenfließen. Das gilt auch für die Wirksamkeitsüberprüfung des Managementsystems durch interne Auditierung; eine Forderung der ISO 9001. Auch hier wäre es nötig, alle Prüfformate – von Audits bis Wirtschaftsprüfung – integriert zu planen, abgestimmt umzusetzen und Erkenntnisse zu teilen, um gemeinsam Schlüsse für die Managementsystementwicklung daraus zu ziehen. Nur dann lässt sich auch eine integrierte Systementwicklung betreiben.

Gibt es neben Governance und Finance aus Ihrer Sicht noch weitere blinde Flecken?

Sommerhoff: Ja, das ist die Kultur des Unternehmens. Damit meine ich die informalen Regeln, was man in einem bestimmten Unternehmen tut und nicht tut. Das sind Regeln, über die nicht formal in dafür vorgesehenen Gremien entschieden wurden, sondern die kulturell gewachsen sind. Sie sind de facto ein integraler Teil des sozio-technischen Systems Unternehmen, auch wenn sie eben informal sind. Nicht selten überstimmen die Spielregeln des informalen Systems der Kultur sogar die formalen Regeln des Managementsystems.

Was ist das Problem dabei?

Sommerhoff: Die Kultur ist oft deshalb ein blinder Fleck, weil es so schwer ist, dort gewollte Effekte zu erzielen. Was wir diesbezüglich aber wissen müssen ist, dass wir durch das Verändern des Formalsystems die Auslöser für kulturelle Reaktionen und somit Kulturveränderungen erzeugen. Eine direkte Arbeit an der Kultur ist kaum, vielleicht gar nicht möglich. Managementsystemgestaltung ist also potenziell kulturverändernd, ist mittelbares Arbeiten an der Kultur. Das muss man wissen. Und, dass nicht selten gewollte Effekte nicht und dafür ungewollte Effekte entstehen. Dafür müssen Managementsystementwickler ein waches Auge haben und gegebenenfalls gutgemeinte Neuerungen wieder zurücknehmen oder abändern.

Wie geht man mit dem blinden Fleck Kultur um?

Sommerhoff: Man kann versuchen, die Dinge, die in die falsche Richtung gehen, in andere Bahnen zu lenken. Aus der Systemtheorie wissen wir, dass – vereinfacht gesagt – erstens Personen, zweitens Prozesse und Zielsysteme sowie drittens Aufbauorganisation und Kommunikation die wichtigsten Stellhebel für ein sozio-technisches System wie eine Organisation oder ihr Teilsystem Managementsystem sind. Wer System und in Folge Kultur verändern will, der muss nicht ein Sollsystem beschreiben, sondern Personen austauschen, Prozesse und Zielsysteme verändern, Organigramm und Kommunikationswege umbauen. Und zwar ganzheitlich – mit all den oben genannten Gewerken. Das Ergebnis lässt sich nie genau vorhersagen, weil solche Systeme unvorhergesehen reagieren. Deshalb ist es umso wichtiger, auf Basis gewollter und ungewollter Effekte immer nachzujustieren. Das ist eine Arbeit, die gar keinen idealen Endzustand erreichen kann und deshalb kontinuierlich oder in Schüben immer neu zu erfolgen hat. Umso wichtiger sind interne Auditprogramme, die mir fundierte Rückmeldungen zur Systemwirksamkeit geben.

Alles, was Sie gesagt haben, klingt schlüssig, hört sich aber auch nach sehr großen Herausforderungen an.

Sommerhoff: Ja, natürlich ist es nicht einfach, ein funktionierendes Gesamtsystem zu bauen und dynamisch immer auszutarieren. Ich verstehe auch die Kollegen, die sagen, dass es schwierig sei, an die anderen Bereiche heranzukommen, die noch nicht integriert sind – beziehungsweise sich dort hinein zu integrieren.

Und wie geht man vor?

Sommerhoff: Im ersten Schritt geht es darum zu verstehen, dass die beschriebenen Phänomene dazu führen, dass ein Managementsystem nicht wie gewollt funktioniert oder sich eben ein theoretisches Schattensystem neben einem gelebten Praxissystem bildet. Diese Erkenntnis ist wichtig. Es ist ein Fehler, die anderen Themen auszublenden, weil man zunächst auf Hindernisse stößt. Es ist ein Problem, dass wir zu oft nicht wissen, wie wir damit umgehen sollen. Das ist ein Stück weit ein Wissens- und Lerndefizit, das einige Managementsystemgestalter auch deshalb haben, weil sie sich zu viel mit Managementsystemnormen und zu wenig mit Systemtheorie befasst haben. Aber diese Hürden zu überwinden, bietet eine echte Chance, im Unternehmen mit einem schlankeren, stimmigeren, widerspruchsfreieren, weniger dysfunktionalen, generischen System zu arbeiten. Wenn es so ist, dass wir die heutige Situation bemängeln, im Grunde aber viele Jahre die gleichen Lösungsansätze fahren oder gar nur Forderungen wiederholen, dann sollten wir besser etwas Neues probieren.


Zur Person

Benedikt Sommerhoff leitet bei der Deutschen Gesellschaft für Qualität (DGQ) das Themenfeld Qualität & Innovation.



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