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Sehen, was geht

Bildverarbeitung und Maschinensteuerung: in Zukunft eine feste Partnerschaft?
Sehen, was geht

Steuerungen und industrielle Bildverarbeitung sind heute noch unterschiedliche Welten. Doch in der vernetzten, digitalen Fertigung mit immer kleineren Losgrößen müssen sie sich verstärkt aufeinander zu bewegen. Dies ist die einhellige Meinung von Experten, die wir zu dem Thema befragt haben.

Als Hochzeitsplaner betätigen sich derzeit die beiden Branchenverbände VDI und VDA. Sie wollen verbinden, was bislang noch nicht zusammengehört: Steuerungen von Maschinen und Anlagen mit der industrielle Bildverarbeitung. Die Richtlinie VDI/VDE/VDMA 2632 Blatt 2 soll in einem ersten Schritt Anbietern und Nutzern der Bildverarbeitung das Erstellen von Lasten- und Pflichtenheften erleichtern (siehe Kasten Seite 66).

Diese Ehe von SPS und Bildverarbeitung ist nach Meinung von Experten beider Lager dringend nötig – vor allem im Hinblick auf die stärkere Vernetzung in den Fabriken, also Industrie 4.0. „Das sind bis jetzt zwei Welten“, stellt Horst Mattfeldt klar, Senior Consultant beim Kamerahersteller Matrix Vision. „Machen wir doch mal die Probe aufs Exempel: Welcher SPS-Hersteller bietet Bildverarbeitung an und welcher Bildverarbeitungs-(Software)-Hersteller bietet SPS Funktionalität an?“ Jede der beiden Welten hat laut Mattfeldt ihre eigenen Standards, und die eine Welt versteht oft die andere nicht. Er nennt ein einfaches Beispiel: „Die Bildverarbeiter denken üblicherweise in Verarbeitungszeiten und Verzögerungen, wohingegen der Maschinenbauer, der ja die SPS nutzt, in Drehwinkeln von Wellen und Achsen denkt. Und das passt nicht zusammen – oder besser gesagt: Das passt nur bei einer bestimmten Drehzahl.“
„Bei SPS und Industrieller Bildverarbeitung handelt es sich um grundsätzlich verschiedene Systeme mit unterschiedlichen Aufgaben“, erklärt Jan Fischer, Principle Application Engineer beim Kamerahersteller Cognex. „Die SPS ist in der Regel das Gehirn einer Anlage, die steuert welche Komponente was zu welchem Zeitpunkt machen soll. Die Bildverarbeitung kann man in diesem Zusammenhang mit den Augen vergleichen, die dem Gehirn Daten – beispielsweise in Form von Messwerten – zukommen lassen.“ Solange der Datenaustausch funktioniert, sieht Fischer auch keine Probleme. Wichtig sei nur, dass die Schnittstellen klar definiert seien und funktionieren. Und dies sei bereits seit langem der Fall.
Die Mehrzahl der Experten sieht allerdings noch Luft nach oben hinsichtlich der Kommunikation zwischen beiden Systemen: „Es ist nicht anders als im täglichen Leben. Wenn ein komplexer Sachverhalt in zwei Sprachen eindeutig verstanden werden muss, dann müssen all die Dinge wie Kultur, Denkweise, Normen und so weiter exakt in die Übersetzung einfließen. Kleine Fehler können da schnell fatale Missverständnisse bewirken“, sagt Markus Damaschke, Geschäftsführer des Automationsexperten Di-Soric.
Solche Kommunikationsprobleme können sich negativ auf die Qualitätssicherung in der Fertigung auswirken: „Wenn eine Fertigungslinie nahe der bestmöglichen Takt-rate läuft, dann können kleine Störungen in der Bildverarbeitung fatale Wirkungen haben“, so Damaschke. „Wenn die Steuerung beispielsweise ständig auf den ausgereizten Kommunikationstakt der Bildverarbeitung warten muss, dann kann eine kleine Ursache eine große Wirkung ergeben – bis hin zum Anlagenstopp, und das ist teuer.“
Prüfungen dauern durch die Trennung der beiden Welten länger als notwendig
„Da mit einer herkömmlichen, nicht integrierten Lösung die Kommunikation zwischen Sensor und Steuerung erheblich länger dauert und viele Signale auch verdrahtet werden müssen, dauert die Qualitätsprüfung im Regelfall länger. Dies wirkt sich auf die Produktivität der Maschine negativ aus“, bestätigt Sebastian Sachse, Leiter Technologie-Marketing Open Automation Technologies beim Steuerungshersteller B&R. Zudem müsse der Anwender auf verschiedene Tools zurückgreifen, um beispielsweise Parameter des Vision-Sensors bei einem Chargenwechsel zu ändern. Mit einer vollumfänglich integrierten Lösung werde der Sensor mit allen relevanten Daten direkt aus der Steuerung versorgt.
Bildverarbeitung kann allerdings heute weit mehr als Qualitätssicherung im engeren Sinne: „Bei der Maschinenautomation haben wir es generell häufig mit 2D/3D-Messaufgaben zu tun die sich per Bildverarbeitung sehr elegant lösen lassen, beispielsweise für die Lagekorrektur von Bauteilen, Restplattenverarbeitung oder auch die zyklische Verschleißkontrolle eines Fräswerkzeugs“, betont Arno Dewald, Leiter des Machine-Vision-Teams im Bereich Maschinenautomation bei Eckelmann.
Der Automatisierungsanbieter registriert in den vergangenen Jahren eine steigende Nachfrage von Kunden nach Bildverarbeitungslösungen, die gut in die Steuerung integriert sind. Realisiert wurde dies zum Beispiel bei einem Kundenprojekt bei einer Applikation zur Bohrung von Tropfern in Bewässerungsschläuchen: Hier sind an einer Bohrstation mit zwei Bohrern bis zu 2000 Löcher pro Minute mit hoher Präzision zu bohren. Ein Bildverarbeitungssystem kontrolliert die Bohrungen und übernimmt Inline-Messaufgaben, die zur automatischen Feinjustierung der Schlauchbearbeitung in der Bohrstation genutzt werden. Integriert in die Software ist auch ein Funktionsmodul zur Kamerakorrektur und Kalibrierung des Vision-Systems. „Wir betrachten sowohl SPS als auch Bildverarbeitungssysteme als Teil eines Ganzen – mit den entsprechenden technischen Konsequenzen für ein reibungsloses Zusammenspiel“, so Dewald.
Dr. Olaf Munkelt, Geschäftsführer des Bildverarbeitungssoftware-Anbieters Mvtec, reicht ein solches Engagement einzelner Unternehmen auf Dauer nicht aus. Er fordert, die Standardisierung weiter voranzutreiben, „sodass auf der Bildverarbeitungsseite nicht eine Vielzahl von proprietären Schnittstellen gepflegt werden muss“. In der SPS-Welt würden aber bevorzugt Komplettlösungen angeboten. „Falls hier etwas geändert werden muss, bedeutet das einen sehr hohen Aufwand“, kritisiert er.
Bilaterale Partnerschaften zwischen Automations- und Kameraherstellern
Andere Player auf dem Markt versuchen sich in bilateralen Partnerschaften, um SPS und Bildverarbeitung mit-einander zu integrieren: So hat Cognex bereits seit knapp fünf Jahren eine technologische Partnerschaft mit B&R, um das Echtzeit-Feldbussystem Powerlink in die Vision In-Sight Kameras von Cognex zu integrieren, um so eine durchgängige Lösung aus Visualisierung, Steuerung und Antrieb zur raschen und präzisen Produktkontrolle im Produktionslinienbetrieb zur Verfügung stellen zu können.
So wird beispielsweise die Kamera direkt von der Steuerung mit Firmware und den entsprechenden Parametern versorgt. Da zudem Standard-Ethernet-Protokolle über Powerlink übertragen werden können, ohne dabei den zyklischen Datenverkehr und das Echtzeitverhalten zu beeinflussen, lassen sich die Kameras auch ohne separate Ethernet-Schnittstelle mit dem PC-Konfigurationstool In-Sight Explorer von Cognex konfigurieren und Bilder – wie beispielsweise für Dokumentations- oder Analysezwecke – abrufen. Powerlink bietet laut B&R gegenüber anderen Protokollen den Vorteil, dass es mit geringen Zykluszeiten und einem Jitter von <100 ns Prozessdaten deterministisch übertragen kann. Parallel nutzt Powerlink die durch Ethernet gegebenen Bandbreite sehr gut aus, um zum Beispiel Bilddaten zu übertragen.
„Für uns hat diese Integration den konkreten Vorteil, dass wir in unseren Maschinen, die alle mit Steuerungen auf Basis von B&R-Technik ausgerüstet werden, nur Powerlink als Kommunikationsbus brauchen und wir so den Verdrahtungsaufwand minimal halten können“, sagt Wolfgang Jahn, der beim Textilmaschinenbauer Liba für die Steuerungstechnik zuständig ist. Die Oberfranken nutzen die vollständig in das B&R-System integrierten Cognex-Kameras für verschiedene Applikationen in ihren Maschinen. So sorgen sie zum Beispiel bei einem Automobilhersteller, der auf einer Kettenwirkmaschine mit multiaxialem Schusseintrag Carbonfaser-Gelege für die Karosserieherstellung herstellt, dass beschädigte oder verschmutzte Nadeln zuverlässig nach höchstens einem Umlauf der Kette erkannt werden – und nicht mehr wie früher mehr oder weniger zufällig. Dann waren in der Regel schon viele Meter fehlerhaftes Gelege produziert worden. Ein Bildverarbeitungssystem pro Transportkette überwacht heute am Anfang der Maschine den Zustand jeder vorbeilaufenden Nadel. Die Auswertung der aufgenommenen Bilder übernimmt eine Kamera vom Typ In-Sight 7200. Erkennt sie einen Fehler, übermittelt sie eine Meldung inklusive Fehlerart an die zentrale Maschinensteuerung, die die Maschine stoppt. Letztlich sorgt das Bildverarbeitungssystem auch für eine höhere Verfügbarkeit und Prozesssicherheit der Maschine.
Übersetzungshilfen wie OPC-UA oder Powerlink sind nicht mehr notwendig
Einen anderen Weg gehen Di-Soric und Siemens: Sie haben die Bildverarbeitungssoftware in die der Simatic SPS-Welt integriert. Der Vorteil, so Geschäftsführer Damaschke: „Systemintegratoren und Anwender benötigen nicht mehr die Übersetzung mit Hilfe verschiedener Standards der Kommunikation wie beispielsweise OPC-UA oder Powerlink über getrennte PC-Netzwerke. Der Automatisierer erzielt zusätzliche Vorteile in der Fertigungs-, Prozess- und Unternehmenskommunikation, einschließlich Aspekten der vollständigen Rückverfolgbarkeit nach GPM-Standard.
Ganz gleich, welchen Weg die Hersteller in Zukunft einschlagen: Eine engere Verknüpfung von Steuerungs- und Bildverarbeitungssystemen wird vor allem für Industrie-4.0-Szenarien äußerst hilfreich sein: „Bei Industrie 4.0 beziehungsweise Smart-Factory-Konzepten geht es ja vor allem um ein immer stärkeres Zusammenwachsen von Systemen und Prozessen. Je mehr Integration, desto effizienter und unkomplizierter wird der gesamte Ablauf“, ist sich Munkelt, Mvtec, sicher. „Zudem können Unternehmen wesentlich flexibler reagieren, wenn Produktionsvorgänge umgestellt werden müssen. Dies lässt sich auch bei kleinen Losgrößen effizient realisieren.“
Für B&R-Experte Sachse sieht das Big Picture so aus: „Die Integration von industrieller Bildverarbeitung ist ein weiterer Schritt zur digitalen Durchgängigkeit, die Kernbestandteil von Industrie 4.0 ist. Bildverarbeitung steht für die Verschmelzung von IT und Automatisierung in einer Komponente. Es werden prozessrelevante Daten, wie aus der Automatisierung bekannt, übertragen und dienen somit der vertikalen Kommunikation. Parallel werden über die gleiche Physik via FTP-Protokoll Bilder übertragen und auf Archivservern in der Cloud abgelegt.
„Die Identifikation etwa von Bauteilen oder zu fertigenden Werkstücken ist ein absolutes Schlüsselthema zur erfolgreichen Umsetzung von Industrie 4.0“, ergänzt Mattfeldt, Matrix Vision. „Genau hierzu kann die Bildverarbeitung einen guten Beitrag leisten. Die Identifizierung über Codes und von Schriften funktioniert heute schon gut. Die Identifizierung von Formen und Oberflächen sind weitere Möglichkeiten, mit denen Systeme zukünftig intelligenter und autonomer werden können, wo aber auch noch viel Innovationspotenzial schlummert.“
Für Jürgen Finner, Vertriebsleiter von Stemmer Imaging, ist „Industrie 4.0 ohne Bildverarbeitung gar nicht realisierbar“: „Bildverarbeitung ist wie keine andere Technologie in der Lage, bestimmte Fehlertypen zu klassifizieren. Diese Fähigkeit ist eine wichtige Voraussetzung für die flexible Fertigung im Sinne von Industrie 4.0, da dieses Konzept ja hohe Anforderungen an sensorische Systeme stellt. Das Auge der Anlage muss Fehler auch bei wechselnden Produkten oder schnelleren Produktionszyklen noch sicher erkennen.“ ■
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