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Dr. Ralf Christoph: „KI könnte Messprogramme künftig selbst generieren“

Interview mit Dr. Ralf Christoph, Werth Messtechnik
„KI könnte Messprogramme in Zukunft selbst generieren“

Künstliche Intelligenz (KI) hält laut Dr. Ralf Christoph, Geschäftsführer von Werth Messtechnik, immer mehr Einzug in die Computertomografie (CT). Wir sprachen mit ihm über die Chancen und Grenzen der KI, über die wirtschaftliche Entwicklung, die Messe Control sowie über weitere Entwicklungen in der CT.

» Sabine Koll

Herr Dr. Christoph, die deutsche Wirtschaft schwächelt derzeit, die Wirtschaftsinstitute rechnen für das Gesamtjahr mit einer Rezession. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Dr. Ralf Christoph: Wenn ich mir die Zahlen des Statistischen Bundesamtes oder auch die des VDMA anschaue, dann kann ich nur sagen, dass wir bereits seit 1,5 Jahren eine Rezession haben. Der Maschinenbau in Deutschland verbucht für das laufende Jahr 35 Prozent Rückgang im Auftragseingang. Im verarbeitenden Gewerbe in Deutschland liegt das Minus bei 25 Prozent. In meiner Zeit hier bei Werth, also seit über 30 Jahren, habe ich einen solchen Einbruch noch nicht erlebt. Wir hoffen sehr, dass die Talsohle langsam erreicht ist und es wieder aufwärts geht. Diese Entwicklung spiegelt sich natürlich bei unseren Kunden wider. Kritisch ist es vor allem in der Automobilindustrie. Die Stückzahlen der großen Automobilhersteller sinken, darunter leiden vor allem die Zulieferer. Investiert wird in einer solchen Situation relativ wenig.

Wie wirkt sich dies auf Ihr Geschäft aus?

Christoph: Der Einbruch in der Wirtschaft ist auch für uns spürbar, auch wenn der Absatz bei uns deutlich weniger geschrumpft ist als im Branchendurchschnitt. Man muss aber dazu sagen, dass wir in den guten Jahren – also beispielsweise 2018 – durch unsere Röntgen-Computertomografie-Technik (CT) ein Wachstum von mehr als 40 Prozent hatten. Auch während der Corona-Pandemie gab es keinen nennenswerten Einbruch. Im Gegenteil: unter anderem getrieben durch die Konsumgüterindustrie, hatten wir erneut Zuwächse. Diese technologiebedingten Wachstumseffekte helfen uns auch heute.

Nun sind sie ja relativ breit aufgestellt, was die Branchen und auch die Märkte anbelangt. Zieht sich das Minus quer durch alle Branchen und Märkte?

Christoph: Was die Branchen betrifft, so stellt die Medizintechnik ein positives Beispiel dar. Dort generieren wir zurzeit mehr Aufträge. Die Krise betrifft nicht nur Deutschland, sondern zumindest ganz Europa. Der Markt in Nordamerika hat sich etwas positiver entwickelt. Hier sehen wir das größte Exportpotenzial für die nahe Zukunft, sodass wir unsere Aktivitäten dort ausbauen. In China, unserem zweitwichtigsten Exportmarkt, beobachten wir hingegen einen Sondereffekt; die politischen Spannungen scheinen sich dort mittlerweile negativ auf das Geschäft auszuwirken. Das heißt für uns, dass wir unsere Vertriebsaktivitäten dort derzeit nicht vorrangig ausbauen werden. China bemüht sich wohl zunehmend unabhängig von Importen zu werden. Dies sieht man zum Beispiel im Maschinenbau und in der Automobilindustrie.

Betrifft dies auch die Messtechnik? Gibt es chinesische Wettbewerber, die sie am Markt auch wahrnehmen?

Christoph: Chinesische Messtechnikhersteller sehen wir aktuell nur auf dem chinesischen Markt als Wettbewerber, in Europa spielen sie noch keine Rolle. Es gibt dort natürlich auch CT-Hersteller, die übrigens Kernkomponenten aus Deutschland beziehen. Die Globalisierung wird früher oder später dafür sorgen, dass chinesische Messtechnikhersteller auch auf den europäischen Markt drängen. Noch ist es aber nicht so weit und wir können unsere Hightech-Produkte nach China exportieren. Unser Technologievorsprung zahlt sich hierbei aus. Ganz generell, nicht nur in China, ist es für Werth wichtig, dass wir durch neue Technik am Markt immer wieder aufs Neue überzeugen.

Welche Technik meinen Sie konkret?

Christoph: Bei der Computertomografie sehen wir derzeit einen regelrechten Boom. Die Fertigungsunternehmen erkennen, dass sie damit große Rationalisierungspotenziale erschließen können. Während man für das taktile Messen eines komplexen Kunststoffwerkstücks beispielsweise 30 Minuten benötigt, ist das mit einem CT-Messsystem heute in wenigen Sekunden erledigt. Teilweise lassen sich 100 Werkstücke in zwei Minuten gemeinsam messen. Das ist dann sehr wirtschaftlich. Dies gilt zum Beispiel für Spritzgießer mit eigenem Werkzeugbau, die das CT-Messsystem für eine schnelle Werkzeugkorrektur einsetzen können. Ich hatte schon vor einigen Jahren die Meinung, dass ein Spritzgießer mit Werkzeugbau auf lange Sicht ohne CT kaum auskommt. Im Bereich der Multisensorik ist die Flexibilität bezüglich der Sensorik und die erreichbare Genauigkeit der Werth-Geräte wohl derzeit im internationalen Vergleich unerreicht.

Ist die Computertomografie in den vergangenen Jahren auch preislich attraktiver geworden?

Christoph: Preisgünstiger ist sie zum Teil auch geworden, aber wichtiger ist, dass sich das Preis-Leistungsverhältnis durch unsere Entwicklungen deutlich verbessert hat. Wir haben in den vergangenen Jahren mit dem TomoScope XS und S die Entwicklung auf kleine und mittelgroße CT-Messsysteme konzentriert. Diese Geräte gibt es in verschiedenen Bauweisen. Dabei ist es uns gelungen, bei gleicher Auflösung entweder viel schneller oder bei gleicher Messzeit mit viel höherer Auflösung zu messen und damit letztlich auch eine höhere Genauigkeit zu erreichen als mit vergleichbaren Systemen. Damit ist die Computertomografie deutlich wirtschaftlicher geworden. Hinzu kommt, dass die Geräte wartungsfreundlicher beziehungsweise wartungsärmer sind als Wettbewerbsprodukte. Sie müssen nur einmal im Jahr gewartet werden und konkurrieren auch hierbei preislich mit konventionellen Koordinatenmessgeräten.

Welche technischen Neuentwicklungen wird es bei industriellen CTs in der nächsten Zukunft geben?

Christoph: Als Beispiel würde ich gern mit einer aktuellen Entwicklung von uns beginnen, mit der wir die Wirtschaftlichkeit der Geräte nochmals steigern: Es geht um die Simulation des Tomografieprozesses, die wir mit der WinWerth Softwareoption TomoSim ermöglichen. Damit können Anwender das CT-Messsystem an real aussehenden Volumendaten, einschließlich der gleichen Artefakte wie bei einer echten Messung, offline programmieren. Hierfür wird anhand des CAD-Modells der komplette Tomografieprozess mit den meisten physikalischen Einflussfaktoren simuliert. Auf der Grundlage der Simulation kann man die Messparameter optimieren, sodass das Programm am Gerät sofort funktionsfähig ist. Natürlich lässt sich damit auch die Auslastung der Geräte steigern. Eine weitere Anwendung der integrierten Simulation ist die Artefaktkorrektur. Zum Beispiel die bekannten Kegelstrahlartefakte können damit nahezu vollständig beseitigt werden. Weitere Entwicklungen konzentrieren sich darauf, den Tomografie-Prozess im Hinblick auf Geschwindigkeit zu optimieren. Dabei stellt sich wieder die Herausforderung, dass die Computer angesichts der riesigen Datenmengen, die ein CT erzeugt, zu langsam sind für die Auswertungen. Deshalb müssen bei manchen Anwendungen mehrere Rechner parallel laufen.

Wird Künstliche Intelligenz in Zukunft eine größere Rolle spielen in der Computertomografie?

Christoph: Davon gehe ich aus. Wir haben seit etwa fünf Jahren KI an der ein oder anderen Stelle in unsere Messgeräte integriert. In der CT lassen sich damit zum Beispiel Artefakte korrigieren. Auch für die Defekterkennung eignet sich die KI sehr gut, weil man ihr durch Training vermitteln kann, wie ein Defekt zu erkennen ist. Wir machen daraus allerdings keinen Medienhype.

Wo sehen Sie derzeit die Grenzen der KI?

Christoph: Wenn man dimensionelle Eigenschaften misst, wird es mit der KI schwieriger. Man muss zum Beispiel aufpassen, dass die KI nicht auf das Ideal trainiert wird. Sie soll ja keine Messergebnisse produzieren, die dem CAD-Modell gleichen. Dann sind alle Maße plötzlich richtig. Das kann man aber vermeiden, indem man die Trainingsumgebung entsprechend auswählt. Der Softwareentwickler muss darauf achten, dass die Qualität der Messdaten durch KI verbessert wird.

Wie sehen Sie das: Braucht es künftig noch Experten/Messtechniker, um die CT-Ergebnisse richtig interpretieren zu können?

Christoph: Viele unserer Messgeräte stehen schon heute in der Produktion, und werden dort von angelernten Mitarbeitern in der Schicht bedient. Das heißt, für diese Anwender haben wir Bedienoberflächen, mit denen sie einfach und schnell klarkommen. Sie können etwa die Programme starten, die dann automatisch ablaufen. Für das Erstellen der Messprogramme braucht es jedoch auch in Zukunft Messtechniker. Aber auch da sind wir dabei, deren Arbeit zu erleichtern; zum Beispiel durch die CAD-Anbindung der Messgeräte. Viele CAD-Systeme bieten mittlerweile die Möglichkeit, PMI-Daten – PMI steht für Product and Manufacturing Information – zu integrieren. Hieraus ist eine einfache Erstellung der Messprogramme möglich.

Wird PMI in der Industrie mittlerweile denn genutzt?

Christoph: Die Umsetzung von PMI klemmt an vielen Stellen. Insbesondere fällt es vielen Anwenderunternehmen schwer, ihre Konstrukteure entsprechend weiterzubilden. Ich denke trotzdem, dass PMI der richte Weg ist, es braucht nur etwas Zeit. Man kann das vergleichen mit der Einführung eines ERP-Systems im Unternehmen: Wenn man Befragungen in der Industrie glaubt, dann ist Excel immer noch das Tool, das am häufigsten genutzt wird. Das heißt, in den Köpfen der Mitarbeiter und auf den Chefetagen muss sich etwas bewegen. Wichtig ist dabei natürlich auch, dass die Konstrukteure im Studium ausreichend Messtechnik-Wissen vermittelt bekommen. Aber die Entwicklung an den Universitäten geht derzeit leider in die andere Richtung, da werden Lehrstühle für Fertigungsmesstechnik abgeschafft. Das ist sehr schade.

Der Fachkräftemangel ist auch in der Messtechnik ein großes Thema. Der Beruf ist nicht wirklich sexy. Was bedeutet dies für die Entwicklung von Messgeräten?

Christoph: Wir selbst finden Messtechnik natürlich total spannend. Wir bilden in vielen Berufen aus, die auch direkt mit der Messtechnik zu tun haben, wie Mechatroniker oder Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung. Knapp 20 % unserer Belegschaft in Gießen sind Auszubildende. Qualifizierte Mitarbeiter sind rar, die bekommen wir nur, indem wir selbst ausbilden. Das Gleiche tun wir im Hochschulbereich, indem wir Studenten der Fachrichtungen Mechatronik, Elektrotechnik, Physik, Informatik oder Maschinenbau Arbeitsplätze für ihre Bachelor- und Masterarbeiten oder auch Promotionen bieten. Die Zahl der potenziellen Kandidaten geht aber leider von Jahr zu Jahr zurück, weil sich immer weniger Abiturienten für ein naturwissenschaftlich-technisches Studium entscheiden. In den Medien gibt es Technik-feindliche Tendenzen. Das tut dem Wirtschaftsstandort nicht gut. Trotz aller Schwierigkeiten schaffen wir es aber noch immer, genügend Nachwuchs für unser Unternehmen zu generieren. Bei unseren Kunden sehe ich dies genauso: Wer nicht selbst ausbildet, bekommt irgendwann Nachwuchsprobleme. Und dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere Länder wie die Schweiz oder für Österreich.

Was heißt das für Ihre Messgeräte, wenn es in Zukunft kaum noch Messtechniker für die Programmierung gibt?

Christoph: Ich gehe stark davon aus, dass künstliche Intelligenz in 10 bis 20 Jahren in der Lage sein wird, Programme selbst zu generieren – mit den Informationen über das Messgerät und mit Hilfe des PMI-Datensatzes. In diese Richtung geht wohl die Entwicklung. Doch auch dann braucht man noch immer den leitenden Ingenieur, der der KI vorgibt, was sie tun soll, der sie also führt. Derzeit sind KI-Systeme ja bewusst in ihrer Lernfähigkeit eingeschränkt, um sie unter Kontrolle zu halten, doch die Entwicklungen in diesem Bereich sind schwer vorhersehbar.

Werth ist seit Jahren im Ausstellerbeirat der Control. Dort gibt es nun unterschiedliche Meinungen darüber, in welchem Turnus die Messe stattfinden soll. Frau Schall sagte uns kürzlich im Interview, dass sie davon ausgeht, dass im kommenden Jahr viele, auch große Hersteller nicht dabei sein werden. Was sind Ihre Gedanken dazu?

Christoph: Das ist ein heißes Thema. Wir sind seit über 30 Jahren in jedem Jahr dabei und gehören zu den Ausstellern, die eine jährliche Durchführung der Control ganz klar befürworten. Insbesondere kleine Hersteller sind noch viel stärker auf diesen Jahresturnus angewiesen, weil sie neue Kundenkontakte brauchen. Eine Messe ist dafür immer noch die beste Plattform. Je größer ein Unternehmen ist, desto mehr Stammkunden hat es. Über 70 Prozent der Besucher, die auf der Control zu uns kommen, kennen wir schon. Das heißt, der Anteil der neuen Kontakte ist nicht exorbitant hoch. Aber wir generieren in Gesprächen mit den Kunden auf der Messe sehr viele neue Ideen, aus denen dann neue Projekte entstehen. Das kann man aber nur, wenn man den Besuchern auf dem Messestand die Breite seiner Technologien zeigen kann. Bei einigen sehr großen Wettbewerbern war dies in den vergangenen Jahren oft nicht mehr der Fall, für manche Unternehmen war die Control zunehmend eine Image-Veranstaltung. Diese Firmen haben nun kein Interesse mehr an einer jährlich stattfindenden Control. Die Rezession lenkt natürlich Entscheidungsträger auch aus anderen Gründen in diese Richtung. Meine Empfehlung an Schall lautet, den jährlichen Turnus durchzuhalten. Schließlich ist die Control eine Erfolgsgeschichte der Firma Schall und auch der Messtechnikbranche in Deutschland. Wir haben den starken Heimmarkt nicht zuletzt durch die Control entwickelt, das unterschätzen wohl einige.

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