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Qualitätssicherung in der additiven Fertigung: Jeder für sich

Qualitätssicherung in der additiven Fertigung
Jeder für sich statt Standards für alle

Die Qualitätssicherung in der additiven Fertigung gestaltet sich nach wie vor schwierig: Die Kontrolle des Fertigungsprozesses stellt Anwender ebenso vor Herausforderungen wie vor- und nachgelagerte Prozesse. Auf Normen und Standards können Fertigungsunternehmen auch noch nicht zurückgreifen.

» Sabine Koll

Eine schlechte und eine gute Nachricht hat Dr. Kai Hilgenberg, Leiter des Fachbereichs Additive Fertigung metallischer Komponenten der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) für Anwender additiver Fertigungsverfahren: „Generell gestaltet sich die Qualitätssicherung in der additiven Fertigung oft schwierig, da alle Verfahren extrem empfindlich auf sich verändernde Umgebungseinflüsse und Parameterveränderungen reagieren. Doch einen Großteil möglicher Defekte bekommt man durch die richtige Einstellung der Prozessparameter der Anlage gut in den Griff – auch wenn dies in der Praxis nicht immer ganz einfach ist.“

Man müsse sich klarmachen, dass etwa beim pulverbettbasierten Laserstrahlschmelzen (Laser Powder Bed Fusion, kurz LPBF), dem wichtigsten additiven Verfahren für Metall, sowohl die Schmelzbadtiefe als auch die Schmelzbadlänge und -breite nicht immer zu 100 % konstant seien, die Werte schwanken vielmehr um Mittelwerte herum. Hilgenberg: „Bei einem kleinen Würfel mit 1 cm3 Volumen haben wir circa 135 m geschweißte Strecke, also 135 m Vektoren, die der Laser umschmolzen hat. Das heißt, es kommt auf eine hohe Stabilität der Prozessführung an – und die ist nicht immer einfach zu erreichen.“

Diese Einschätzung teilt Anne Rathje, Projektingenieurin am IPH – Institut für Integrierte Produktion Hannover. „Der Fertigungsprozess – ganz gleich, welches additive Verfahren man wählt – ist nicht zu 100 % kontrollierbar. Es gibt sehr viele Parameter und Umwelteinflüsse, die den Prozess beeinflussen, daher weiß man nie genau, wie die Qualität des Bauteils am Ende sein wird. Vor allem dann, wenn man einen Prozessfähigkeitsnachweis in der gesamten Lieferkette erbringen müsse – etwa in der Medizintechnik – stellt dies eine Herausforderung dar.

Um diesen erbringen zu können, müssen Anwender laut Rathje „ihre Fertigungsanlagen für additive Fertigung sehr gut im Griff haben und kontinuierlich warten.“ Doch auch dies reicht nicht bei jeder Anlage: „Je günstiger eine Anlage ist, desto weniger Sensorik ist darin für die Prozesskontrolle verbaut, denn Sensoren sind teuer“, so ihre Einschätzung. „Daher integrieren viele Maschinenhersteller nur die notwendigste Sensorik.“ Im Forschungsprojekt Saviour hat das IPH daher in den vergangenen beiden Jahren mit dem Lehrstuhl für Fertigungsmesstechnik und Qualitätsmanagement des Werkzeugmaschinenlabors WZL der RWTH Aachen ein Sensorkonzept für die Überwachung von Prozessparametern sowie ein Qualitätsmodell entwickelt, das mit Hilfe künstlicher Intelligenz die generierten Daten auswertet und Fehler im Prozess findet und prognostiziert. Eine App macht dies transparent. Aufhänger war, dass personalisierte Produkte für die Medizintechnik, also etwa Zahnschienen oder Orthesen in Losgröße 1 sehr gut additiv hergestellt werden können. „Die Herausforderung besteht aber derzeit darin, dass man dafür einen riesigen Prüfaufwand mit sehr vielen Proben betreiben muss, denn die Medical Device Regulation (MDR) fordert einen Prozessfähigkeitsnachweis in der gesamten Lieferkette, um die Risiken in der Fertigung einordnen zu könne“, so Rathje.

Sensornetzwerk für alle additiven Fertigungsanlagen nutzbar

Die Entwicklung am IPH erfolgte am Beispiel eines thermoplastischen Materialextrusionsverfahrens mit ABS-Kunststoff. „Die Idee ist aber, dass sich dieses offene Sensorkonzept als Grundgerüst auch für andere additive Fertigungsanlagen und -verfahren, also auch für metallverarbeitende, nutzen lässt – gegebenenfalls mit anderen Sensoren und Änderungen bei der Vorverarbeitung der Daten“, so Rathje. Hilgenberg ergänzt: „Gerade bei sicherheitsrelevanten Bauteilen ist es wichtig, Defekte sicher ausschließen zu können – und da reichen in der Regel die Charakterisierung des Ausgangsmaterials und das Einstellen von Maschinenparametern alleine nicht aus. Da sollte man mit geeigneten Prüfverfahren wirklich genauer nachschauen.“

Der BAM-Experte nennt als Beispiel für einen typischen Defekt die sogenannte Keyhole-Porosität. Dabei handelt es sich um 20 bis 100 µm große Hohlräume, die bei Geschwindigkeitsänderungen des Lasers oder auch des Elektronenstrahls vorzugsweise bei den Umkehrpunkten der Vektoren an den Randpunkten eines Bauteils entstehen. „Kommen sie vereinzelt vor, bereiten sie keine Probleme. Wenn sie aber perlschnurartige Konfigurationen bilden, dann sind sie durchaus kritisch für die mechanischen Eigenschaften des Bauteils. Schwingfestigkeit, Bruchfestigkeit, Korrosions- und Ermüdungsbeständigkeit der Teile sind dann beeinträchtigt. Durch eine gute Parametrisierung lässt sich dies aber gut in den Griff bekommen“, so Hilgenberg. 

Ungeschmolzene Pulverpartikel können zu Rissen führen

Der gefürchtetste Defekt beim LPBF, der sich ist laut Hilgenberg ebenfalls durch eine gute Prozesskontrolle abwenden lässt, ist der Bindefehler, der auch aus der Schweißtechnik bekannt ist. Er entsteht dadurch, dass der Anwender die Tiefe und Breite des Schmelzbads falsch eingeschätzt hat und er dadurch die einzelnen Bahnen mit einem zu großen Abstand geplant hat. Es bilden sich dann unregelmäßig ausgestaltete Hohlräume mit ungeschmolzenen Pulverpartikeln; prinzipiell kann dieser Fehler bei allen Werkstoffen auftreten, aber besonders sehr viskosen Schmelzen wie zum Beispiel Nickel-Basis-Legierungen. „Dadurch entstehen scharfkantige Spitzen, ein idealer Ausgangspunkt für Risse bei einer schwingenden Belastung“, erklärt der BAM-Experte. „Das heißt, diese Defekte, die von einem Hohlraum ab 30 Mikrometer bis hin zur Delamination einzelner Schichten reichen, müssen möglichst verhindert werden. Hilfreich ist, sich in einem metallographischen Querschliff im Mikroskop anzuschauen, wie breit und tief die Schmelzbäder sind.“

Allerdings haben Defekte ihre Ursache teilweise auch in den vor- und nachgelagerten Schritten: Vorgelagert ist zum Beispiel die Materiallagerung. Durch das Einhalten der richtigen Lagerbedingungen kann man zum Beispiel laut Hilgenberg beim LPDB eine Feuchtigkeitsaufnahme des Ausgangsmaterials vermeiden und damit typische Fehlerbilder wie Gasporen oder metallurgische Poren. „Ursache dafür sind Löslichkeitsverluste von Gasen, insbesondere gast Wasserstoff bei der Erstarrung in der Metallschmelze gerne aus, vor allem bei Aluminium-Legierungen. Die Wirkung: Ein hoher Anteil von Poren reduziert die Schwingfestigkeit des additiv gefertigten Bauteils, auf die statische Festigkeit hat dies allerdings nur geringen Einfluss.“

Die richtige Materiallagerung ist zwar das eine, doch hat das IPH im Projekt Saviour festgestellt, dass selbst innerhalb eines ABS-Masterbatches Rollen unterschiedlicher Qualität auftauchten. „Solche Ausreißer lassen sich nur mit Zugproben des Filaments identifizieren“, sagt IPH-Forscherin Rathje.

Nachgelagerte Prozesse, die wiederum die Qualität von Bauteilen beeinflussen, sind bei nahezu allen additiven Fertigungsverfahren notwendig. „Das Entpulvern zum Entfernen der Stützstrukturen beim LPBF zum Beispiel ist aktuell noch ein sehr manueller Prozess. Und danach müssen die Bauteile in der Regel spannungsarm geglüht werden, um das Niveau der Eigenspannungen zu reduzieren. Darauf kann man nur bei bestimmten Aluminiumlegierungen verzichten“, erklärt Hilgenberg.

Normen sind aktuell noch
Gegenstand der Forschung

Die BAM wird zudem immer wieder mit Fragen von Anwendern konfrontiert wie: Wie viele Defekte dürfen wir uns bei der additiven Fertigung erlauben? Gibt es Obergrenzen von diesen Defekten? Wie groß dürfen diese sein? Eine Antwort darauf kann die Bundesbehörde noch nicht geben. „Es gibt aktuell in der additiven Fertigung noch keinen allgemeingültigen Aussagen und Bewertungskategorien und -kriterien, wie wir sie zum Beispiel mit der DIN EN ISO 5817:2014–6 aus der Schweißtechnik kennen. Dies ist aber Forschungsgegenstand“, stellt Hilgenberg klar. In der ISO 5817:2014–6 ist zum Beispiel angegeben, wie groß eine Pore oder ein Riss sein darf. Statt einer Norm geben Endanwender heute stattdessen selbst Höchstwerte für ihre Abnahmeprozesse an. „Welche Qualitätsfaktoren für ein Bauteil greifen, ist ja je nach Anwendung sehr individuell. Das können schöne Oberfläche sein oder auch mechanische Eigenschaften wie Hochfestigkeit“, ergänzt IPH-Forscherin Rathje.

Neben Insitu-Monitoring-Lösungen für die Prozessüberwachung sind Prüfmaschinen etwa für Zug- oder Dauerschwingversuche sowie die Metallografie das Mittel der Wahl für die Qualitätssicherung in der additiven Fertigung. „Der Goldstandard bei der Prüfung der fertigen Bauteile auf Defekte ist aber aktuell die Computertomografie (CT)“, sagt Professor Bruno Giovanni, Leiter des Fachbereich Mikro-Zerstörungsfreie Prüfung an der BAM. „Mit der CT lassen sich sowohl Wanddicken als auch Oberflächenrauheiten sowie Abweichungen bei Form und Größe von additiv gefertigten Bauteilen ermitteln. Dabei sind – wie mit dem Mikroskop – beliebige Schnitte durch das Bauteil machbar. Und auch Restpulver in Gitterstrukturen entdeckt der CT – dies ist besonders in medizinischen Anwendungen wie Implantaten wichtig.“ Die BAM hat für diese Anwendung eigens eine KI-Lösung entwickelt. Auch Pulvercharakterisierungen sind mit der CT möglich: Porosität und Größenverteilungen macht sie transparent. Giovanni: „Dies ist bei neuem und bei rezykliertem Pulver von Vorteil.“ Angesichts der hohen Komplexität der Qualitätssicherung in der additiven Fertigung gibt Hilgenberg aber Entwarnung: „Defekte sind normal, das kennen wir ja von anderen Verfahren. 100 % perfekte Bauteile gibt es nirgendwo. Das kann also auch gar nicht der Maßstab für die additive Fertigung sein. Wir müssen vielmehr besonders kritische Defekte ausschließen und auch ein bisschen lernen, mit den Defekten zu leben.“


Leitfaden für die Materialextrusion

Das Fraunhofer IPA und die Universität Bayreuth haben den Anwenderleitfaden „Qualitätssicherung in der additiven Materialextrusion“ (MEX) für die Serienfertigung erstellt. Darin sind wesentliche Handlungsempfehlungen zur qualitativen und quantitativen Bestimmung der Qualität eines additiv gefertigten Bauteils zusammengestellt, die bei der Planung, Fertigung und Kontrolle in der additiven MEX-Prozesskette von Bedeutung sein können. Zudem wird beschrieben, welche Teilprozesse entlang der Prozesskette einen relevanten Einfluss auf die Bauteilqualität und Reproduzierbarkeit haben. Diese bilden die Basis für ein universell anwendbares Vorgehensmodell zur Beurteilung der Bauteilqualität, das neben der Erfassung der Bauteilqualität auch den Qualitätssicherungsprozess umfasst.

Hierfür haben die Forscher für die Vergleichbarkeit von Bauteilen ein Güteklassensystem entwickelt, das die objektive Quantifizierung der Bauteilqualität ermöglicht. Dazu werden existierende Normen und Richtlinien der additiven Fertigung herangezogen, die für MEX geeignet sind. Kern des Vorgehensmodells ist die Evaluierung von Qualitätsmerkmalen und deren Prüfverfahren anhand geeigneter Prüfkörper und Referenzbauteile sowie deren quantitativer und qualitativer Bewertung mittels einer Qualitätsmatrix. Der Fokus liegt auf den Qualitätsmerkmalen Zugfestigkeit, Oberflächenbeschaffenheit sowie Form- und Maßhaltigkeit.

Der Anwenderleitfaden einschließlich Checklisten, Arbeitsanweisungen und Bewertungssystem für das Referenzbauteil steht hier zum Download zur Verfügung:

http://hier.pro/0IT58


Webinar-Reihe der BAM

Die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) bietet derzeit eine Webinar-Reihe zum Thema „Vielschichtig: Methoden-Einblick für die Qualitätssicherung in der additiven Fertigung“ an. Zwei der insgesamt fünf Termine stehen noch an: Am 16.11.2023 geht es um die Thermografie, am 7.12.2023 um mechanische Eigenschaften und Mikrostruktur. Wer sich dafür anmeldet, kann die anderen drei Vorträge (Additive Fertigungsverfahren und Defekte, Computertomografie sowie Wirbelstromprüfung) im Webcast anschauen.



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