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Wissensdefizite

Bildungsnotstand – nur an deutschen Schulen?
Wissensdefizite

In Schulen und Medien sorgte die Bildungsstudie PISA 2000 der OECD vor kurzem für große Aufregung: Deutschland als die in Europa führende Wirtschafts- und Industrienation belegt nur die hinteren Ränge, was die Lesekompetenz und die mathematisch-naturwissenschaftliche Grundbildung der Schüler angeht. Schon wird von einem nationalen Bildungsnotstand gesprochen.

Mahr GmbH, Göttingen/Esslingen

In den Betrieben hat die Erkenntnis, dass mit dem deutschen Schulsystem etwas im Argen liegt, keine große Überraschung ausgelöst. Schon seit einigen Jahren beklagen die Praktiker in der betrieblichen Facharbeiter-Ausbildung ein ständig sinkendes Wissensniveau ihrer Ausbildungsplatzbewerber. Die Berufsschulen müssen heute Wissenslücken füllen, die unser allgemeinbildendes Schulsystem bei den Schülern hinterlassen hat, und haben dadurch nicht mehr ausreichend Zeit, den eigenen Lehrplan zu erfüllen. Hier müssen die Betriebe einspringen und sind damit oftmals überfordert.
Ein akuter Wissensnotstand zeichnet sich auch in einem anderen wichtigen Bereich der betrieblichen Wirklichkeit ab: im Bereich der praktischen Qualitätssicherung, zu dem unter anderem die Fertigungsmesstechnik, sowie das Prüfmittelmanagement, also die regelmäßige Überwachung und der Nachweis der Fähigkeit der verwendeten Prüfmittel, zählen. Lange Zeit reichte es für qualitätszertifizierte Betriebe aus, nachzuweisen, dass eindeutige und logisch sinnvolle Verfahrens- und Arbeitsanweisungen vorlagen, die schriftlich dokumentiert und den betroffenen Abteilungen bekannt gemacht wurden. Die Praxis hat gezeigt, dass bürokratisches Handeln allein nicht ausreicht, um bestehende Probleme zu beseitigen: Hätten die in den achtziger Jahren entstandene Normenreihe ISO 9000 ff. und die damit verbundene Zertifizierung des Qualitätsmanagements vieler Firmen wirklich geholfen, das allgemeine Qualitätsniveau zu heben, so hätten die nationalen und internationalen Verbände der Automobilindustrie sicherlich nicht eigene, umfassende Werke zu den Themen Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement nachlegen müssen (QS-9000, VDA 6.1 ff.).
Die Forderungen an die Fertigungsmesstechnik und an den Umgang mit Prüfmitteln in Fertigungsbetrieben liegen heute klar zutage, sind auch in DIN-Normen und Normentwürfen nahezu lückenlos dokumentiert und werden im Kunden-Lieferantenverhältnis zunehmend eingefordert: Kürzlich sprach mich der Qualitätsbeauftragte einer namhaften Firma aus dem süddeutschen Raum an, der sich mit folgender Aufgabe konfrontiert sah: Er sollte für einen Lieferanten, der bei seinem Unternehmen seit Jahren regelmäßig kleinere Anzahlen von Drehteilen bestellt, erstmals einen Messmittelfähigkeitsnachweis nach QS-9000 führen. Eine berechtigte Forderung? Sicherlich ja, denn vermutlich gab der Kunde hier nur die Forderung eines seiner Kunden an einen seiner Lieferanten weiter. Ein Problem? Eigentlich nicht, sollte man meinen, denn in der Dreherei, in der die Teile des Kunden gefertigt werden, werden aus-schließlich nur Handmessschieber und Bügelmessschrauben verwendet. Und dennoch ein Problem: Wer macht schon für derart häufig angewendete Standardmessmittel aufgabenspezifische Fähigkeitsuntersuchungen streng nach Norm? Und wer denkt überhaupt intensiv über die Fähigkeit von Messmitteln bei kleinen und kleinsten Losgrößen nach? Das macht doch nur in der Großserie Sinn – oder? Reicht es nicht aus, wenn man im Rahmen der laufenden Prüfmittelüberwachung regelmäßig nachweist, dass die Abweichungen der verwendeten Messmittel innerhalb zulässiger DIN-Herstelltoleranzen, ggf. mit geringfügigen, eindeutig dokumentierten Verschleißzugaben, liegen? Tatsächlich sagt dieser Nachweis allein über die Befähigung der geprüften Messmittel für eine spezielle Messaufgabe leider überhaupt nichts aus. Dazu ist in der Praxis erheblich mehr Aufwand erforderlich: Wer Genaues wissen will, schaue bitte in dem Anhang A von Beiblatt 1 der Norm DIN EN ISO 14253 nach, in dem beispielhaft beschrieben ist, welche Unsicherheitskomponenten für Durchmessermessungen bei einer sorgfältigen und gewissenhaften Untersuchung zu berücksichtigen sind: Die Abweichungen des Messmittels selbst sind nur eine Komponente des auf den konkreten Anwendungsfall bezogenen Mess-unsicherheitsbudgets, bei gegebener Mess-aufgabe müssen zusätzlich auch noch der Einfluss der Umgebung (zum Beispiel der Temperatureinfluss), der Einfluss des Bedieners, Einflüsse, die vom Werkstück ausgehen können, und ggf. auch noch die durch rückführbare Kalibrierung festzustellenden Abweichungen des Einstellnormals berücksichtigt werden.
Ein bisschen viel Aufwand für einfache Handmessmittel? War die Forderung nach Fähigkeitsnachweis gemäß QS-9000 also nicht berechtigt, obwohl sie vom Kunden kam? Leider doch! So unglaublich es erscheint, ich selbst wurde Zeuge, dass in einem Seminar über Prüfmittelfähigkeit von 19 Qualitäts- und Prüfmittelbeauftragten, die an diesem Seminar teilnahmen, keiner (!) eine Antwort auf die einfache und aus der Praxis kommende Frage des Referenten hatte, nach welchem Kriterium bei bekannter Mess-aufgabe entschieden werden kann, ob ein Messschieber oder eine Bügelmessschraube das geeignete Messgerät sei. In Zeiten, in denen in der Theorie ständig über die richtige Wahl und Berechnung geeigneter Prozessfähigkeits-, Maschinenfähigkeits- und Messmittelfähigkeitsindizes diskutiert wird, scheint in der Praxis niemand mehr die Frage beantworten zu können oder beantworten zu wollen, welches Messmittel im konkreten Fall wohl das richtige ist, sei es aus Unwissenheit oder aus Verunsicherung angesichts ständig neuer Anforderungen an die Messtechnik von Seiten nationaler sowie internationaler Normen und mit Normen vergleichbarer Vorschriften.
Aber genau deshalb ist die Forderung der Automobilindustrie nach einem überzeugenden und vollständigen Nachweis der Messmittelfähigkeit und das Beharren auf der Berücksichtigung des Bedienereinflusses so berechtigt. Denn die beste Prüfmittelüberwachung nützt nichts, wenn der Messtechniker das ungeeignete Messmittel für das Prüfen einer Zeichnungstoleranz wählt. Zum Beispiel ein Messgerät – und das ist wohl die häufigste Fehlerursache – dessen Messunsicherheit fast ebenso groß wie die zu prüfende Toleranz ist. Weil es gerade verfügbar ist, also aus reiner Gewohnheit und Gedankenlosigkeit, oder weil der Bediener gar nicht weiß, wie groß die Messunsicherheit ist. Oder weil er gar die goldene Regel der Mess-technik nicht kennt.
Dasselbe gilt, wenn die für die Bedienung hochwertiger Messgeräte notwendigen Grundkenntnisse fehlen: Bei Tastschnittgeräten (MarSurf oder MarForm von Mahr) zum Beispiel sind alle Überlegungen zur Messunsicherheit Makulatur, wenn der Anwender nicht weiß, welches Profilfilter zu wählen ist. Aber wer weiß schon, dass man das Filter bei Rundheitsmessungen durchmesserabhängig einstellen sollte, um vergleichbare Messergebnisse zu erhalten? Und welchen Einfluss das Filter auf Ausreißer oder Kanten im Profil hat? Oder wie sich Messstrecke und Mess-punktdichte auf die aus dem Profil berechneten Kenngrößen auswirken. Fragen Sie doch einfach einmal in Ihrem Messraum nach, ob Formmesswerte größer oder kleiner werden, wenn der Messtaster von der normgerechten Messrichtung abweicht? (Und lassen Sie sich die Richtigkeit der Antwort bitte nachweisen!) Und welches ist überhaupt die der Norm entsprechende Messrichtung? Senkrecht zur Prüffläche? Auch da gibt es Ausnahmen.
Abgeschoben in die QS?
Zurück zu unserer Ausgangshypothese: Es gibt zunehmende Wissensdefizite in deutschen Betrieben, die Theorie und Praxis der Qualitätssicherung betreffend, dass ist die eindeutige Konsequenz aus mehr als 15 Jahren Erfahrung in der Schulung von Anwendern von Messgeräten eines namhaften deutschen Messmittelherstellers. Leider war und ist es in manchen Firmen gängige Praxis, Mitarbeiter, die in anderen Bereichen freigesetzt wurden in den Bereich der Qualitätssicherung zu versetzen und sie dort ohne oder mit einem Minimum an Schulung der notwendigen Grundlagen und Geräte arbeiten zu lassen. So ist es oftmals trauriger Alltag, dass große Investitionen in Messmaschinen fließen, die Möglichkeiten der Maschinen dann aber nur zu 10 Prozent genutzt werden können. Es ist noch nicht von allen Verantwortlichen verinnerlicht, dass der Bereich der Qualitätssicherung nicht nur Geld bindet, sondern immer notwendiger wird, um die Produktqualität zu verifizieren und dadurch lieferfähig zu bleiben.
Die Folgen für die betroffenen Unternehmen sind vielfach schmerzhaft. Dabei ist das oben beschriebene Beispiel, auf drängende Fragen eines Kunden keine überzeugenden Antworten parat zu haben, nur ein eher harmloser Fall. Unangenehmer sind die Folgen immer dann, wenn Ihr Kunde schon ausgelieferte Teile nicht bezahlt, weil Sie als Lieferant eindeutige Zeichnungsvorgaben falsch interpretiert oder aus Unkenntnis einfach nicht beachtet haben. Ein gar nicht so seltener Streitfall ist beispielsweise die Hüllbedingung nach DIN 7167: Obwohl in dieser nur national gültigen Norm vielleicht das Geheimnis überlegener Qualität „Made in Germany“ begründet liegt, ist das dort beschriebene Tolerierungsprinzip und die Gültigkeit der Hüllbedingung auch ohne besondere Zeichnungseintragungen heute selbst erfahrenen Konstrukteuren vielfach unbekannt. Andererseits wird gerade diese Norm von Großfirmen gerne als Argument gebraucht, wenn vermeintlich einwandfrei gefertigte und geprüfte Teile mit Erfolg zurückgewiesen werden. Zudem stoßen die Forderungen an zu fertigende Produkte heute nicht selten an die Grenzen des technisch Realisierbaren. Oftmals wird hier die Kontrolle der gefertigten Produkte, durch den blinden Glauben an die eigene Unfehlbarkeit ersetzt. Zum Teil ist dieser Glaube auch gepaart mit der Hoffnung, dass der Abnehmer auch über keine besseren Prüfmethoden verfügt und dadurch Fehler nicht aufdecken kann. Leider hat man sich mit dieser Auffassung aber in eine Spirale begeben, die Probleme schafft: Wenn das Endprodukt negative Eigenschaften, wie zum Beispiel zu lauten oder unruhigen Lauf oder Verspannungen aufweist, ohne dass die Ursache ergründet werden kann, wird dieses „Problem“ recht schnell durch die Verringerung von Toleranzen beseitigt. Die Folge ist, dass das Produkt nicht mehr fertigbar ist, und dass es dem Abnehmer dadurch immer leichter fällt, die Nichtübereinstimmung mit den Forderungen zu beweisen. Dem Lieferanten hingegen wird es unmöglich gemacht, die Übereinstimmung zu beweisen. Die Folge dieser Spirale sind Lieferantenwechsel oder Sonderfreigaben, die typischerweise mit Forderungen nach Preisnachlässen einhergehen.
Die betroffenen Firmen wenden sich in diesen und in ähnlich gelagerten Fällen oft an den Messgerätehersteller ihres Vertrauens. Dabei ist guter Rat im nachhinein teuer. Einfacher wäre es, wenn als Grundsatz beachtet würde, dass Weiterbildung und Schulung nicht alles, aber alles nichts ohne eine fundierte Qualifikation der Mitarbeiter ist. Dann würden sich manche Panne und viele peinliche Diskussionen mit Kunden von vorneherein vermeiden lassen. Investitionen in die Qualifikation der Mitarbeiter können für jedes Unternehmen eine nachhaltige Verbesserung der Wettbewerbssituation im Bereich der Qualitätssicherung bedeuten, wenn die Schulung den daran teilnehmenden Mitarbeitern hilft, ihr praktisches Wissen und ihren Erfahrungshorizont zu erweitern. Dazu ist es unbedingt erforderlich, dass die Schulung praxisnah und von Praktikern durchgeführt wird. Aufgrund der Bedeutung des Themas hat sich die Mahr Akademie in Göttingen entschlossen, Ihr bewährtes Programm an Messtechnikseminaren um Schulungen zu Themen aus den Bereichen Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement zu erweitern. Das neue Programm wird erstmalig zur Messe „Control“ in Sinsheim präsentiert. Das Interesse an den bundesweit durchgeführten Praxisseminaren der Mahr Akademie war schon in der Vergangenheit groß, könnte aber – angesichts der beschriebenen Ausgangslage und aufgrund der Ausweitung der angebotenen Themen – zukünftig deutlich anwachsen.
CONTROL, Halle 5, Stand 5100–5101
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